Unfehlbare in Pestalozzis Werkstatt (Unterrichtsbeurteilung)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Samstag, 30. Juni 2007 21:21
Matthias Claudius
Mein lieber Sohn: Die Zeit kommt allgemach heran, dass ich den Weg gehen muss, den man nicht wieder kömmt. So will ich Dir einigen Rat geben auf Deine Frage nach dem fixen Punkt im Lehrerleben.
In Deinen jungen Jahren schon hast Du manchen Stern vom Himmel fallen und viele Stäbe, auf die Du Dich verließest, brechen sehen. Wolken des Wahns, der Unverbindlichkeit und der Eitelkeit umwabern Dich. Die Weisen unserer Zeit heißen Jein, Vielleicht und Jaaber.
Da fragtest Du: Wo sind die guten alten Werte der Klarheit und Entschiedenheit? Was ist gut, was richtig? Wer hat des Urteils Sicherheit? Wessen Rede ist: ja, ja, nein, nein? Wer in der Schule sagt denn noch, was Sache ist?
So höre denn, mein Sohn: Nur zwei Ämter in Pestalozzis Werkstatt gibt es, denen eine ganz wunderbare Fähigkeit zugeschrieben wird, stets Richtiges und Verlässliches zu sagen. Und zwar immer sofort. Die so tun, kennen nicht Irrtum, Verlegenheit und schwankendes Wort, und ihre Urteile sind mit dem Siegel der Sicherheit gesegnet.
Wann immer ein Mensch des ersten Amts gerufen wird oder sich selber ruft: Er kommt, sieht, sitzt ein, zwei Stündchen hinten und weiß Bescheid. Es ist der deutsche Schulrat.
O Sohn: Der muss sein, denn irgendjemand muss so sein, wenn nicht diese ganze staatliche Veranstaltung in Beliebigkeit zerlaufen soll. Über die Laufbahn von Lehrerinnen und Lehrern kann nun mal nur entschieden werden, wenn zuvor klar geurteilt wurde: Ja - nein. Dieses ist das Schmieröl, ohne das die gewaltige Maschine staatlicher Schulverwaltung nicht läuft.
Ich weiß, mein Sohn, wovon ich rede, denn auch ich habe hinten gesessen, gesättigt von der Lektüre dürftiger Personalakten, habe zugehört, zugesehen und geschrieben, geschrieben.
Und während ich so saß und schrieb, dachte ich die drei verfassungsgüldenen Monstranzen der Beamtenlaufbahn auf dem Lehrerpult stehend: Eignung, Befähigung und fachliche Leistung, auf dass ich ihrer während meiner zwei Stündchen immer eingedenk sei.
Da soll also einer, der seit fünf, zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr vorne gestanden hat, beurteilen, was er im Licht der heiligen Gefäße sieht und vor allem, was er gar nicht sehen kann: Ist die da vorn geeignet, spürt sie also Verantwortung, ist belastbar, hat Urteils- und Einfühlungsvermögen? Ist sie befähigt, hat also Fachkenntnisse, ist konflikt- und teamfähig und unterrichtet in der derzeit gewünschten Art & Weise? Und wie sieht’s mit ihrer Leistung aus, nämlich mit ihren Arbeitsergebnissen und den Eigenschaften, die deren Grundlage sind:
Initiativeengagementtemposorgfaltfleißselbständigkeit?
Sogar viel mehr als der heiligen Humpen Strahlkraft ist zu bedenken. In meiner Zeit zählte zu unserer Pflichtlektüre, was ich heute noch von meinem Schreibtisch aus sehe: Sin g ers „ Maßstäbe für eine humane Schule“, Vesters „ Denken, Lernen, Vergessen“, Grells „ Techniken des Lehrerverhaltens“, Metzgers „ Psychologie in der Erziehung“, dazu „Jedem Kind seine Chance“ von Lichtenstein-Rother, die berühmte „Unterrichtsplanung“ von Schulz, Hans Brügelmanns Bücher - einige Dutzend anderer, nicht gerechnet unsere famosen Vorgaben in Rechtsverordnungen, Erlassen und Verfügungen.
Und der da hinten sitzend dieses alles in seinem Kopfe verrührt, ist kein Computer, hat Gefühle, Vorurteile, Temperament und Tagesform und eine eigene Lehr- und Lernbiographie samt zugehörigen Marotten, ist gebunden durch den gegenwärtigen Stand seiner Überzeugungen und Meinungen. Gelegentlich muss er auch noch Kugelschreiber mit psychedelischen Defekten zügeln, die dazu neigen, über eine adrette junge Frau andere Worte aufs Papier zu schmuggeln als über einen kleinen schweißdünstenden Dicken mit Zottelhaaren.
Nach höchstens zwei „Stunden“ werden dann die Schubladen aufgezogen: „In besonderem Maße“, „voll“, „im Allgemeinen“ und „nicht geeignet“.
Neuerdings schwärmen Schulfremde zu „Kompetenzoffensiven“ und „Qualitätsevaluationen“ aus. Die brauchen nicht mal eine „Stunde“, um auf die vorgegebenen Prüfbogen ihre Kreuzchen zu malen.
Die Frage, o Sohn, ob hier der Fixpunkt sei, welchen Du suchest, ist damit schon beantwortet. Dennoch wähnte ich nicht selten, sicher zu sein. Ich besuchte Lehrerinnen, von denen ich sofort zu wissen meinte: Die ist besser, als ich jemals war. Da zauderte ich nicht, die oberste Schublade aufzuziehen. (Ha: Das ist ein preußischer Schulrat seiner Selbstachtung schließlich schuldig!)
Nur bei zwei Lehrerinnen meinte ich zu wissen: Die nicht. Die wollten fest angestellt werden; es war also noch nicht zu spät. Ich habe sie in die Obhut starker Partnerinnen gegeben, auf dass sie sich festigen könnten. Als das nach langen Monaten nicht gelang, meinte ich, es sei besser, zwei Erwachsene viele Jahre Ausbildung in den Wind schreiben zu lassen, als sie anzustellen und im Laufe der Jahre Hunderte von Kindern gutwilliger Schädigung auszusetzen. Da habe ich sie in die unterste Schublade einsortiert und das Ende ihrer Berufslaufbahn eingeleitet. Ob’s ohne eines Zweifels Schatten richtig war? Ich weiß es nicht.
Ach, mein Sohn , mit dem Unterricht von Lehrern ist es wie mit den Aufsätzen von Kindern: Die Urteile sind a priori ungerecht und nicht objektiv. Da können sich die Beurteilenden noch so viel Mühe geben. Und jener Auch-Schulrat, der kürzlich Martin Spiewak von der ZEIT weismachte, er könne die Arbeit einer Lehrerin „in zehn Minuten“ beurteilen, ist bloß ein borniertes Großmaul.)
Darum habe ich, wenn es nicht um Beförderung ging, die Besuchten in ihrer Arbeit zu bestärken versucht. Bestärken, nicht messen. Ich habe erlebt, wie meine Freundin Almuth von einem Tunichtgut zugrundegemessen wurde, ohne Sinn und Verstand, im besten Falle seinem unausgeschlafenen Gerechtigkeitsgefühl folgend, das ihn überkommen haben mag, während er sie - zum ersten Mal übrigens nach zwölf Jahren - im Unterricht sah. Wem nützt das, eine beliebte Lehrerin, unkündbar, erfolgreich und mit Jahrzehnten Erfahrung, niederzukartätschen?
Darum habe ich mir an einem bewunderten Kollegen ein Beispiel genommen: Der marschierte für „Regelbeurteilungen“ mit dem Vorsatz in seine Unterrichtsbesuche, Bestärkenswertes zu finden und das den Kolleginnen und Kollegen schriftlich zu geben. Bestärkenswertes findest Du immer. Immerimmerimmer. Na ja, fast immer. Und dann verzichtete er darauf, Gerechtigkeit auszuwürfeln und schrieb durchweg „voll geeignet“. Um aber alle seine ihm Anvertrauten vor seinem Abschied noch mal kräftig zu bestärken und die darüber erwarteten Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten zu vermeiden, schrieb er ein Jahr lang Bericht auf Bericht und hortete die in seinem Schreibtisch. Eine Woche vor seiner Pensionierung schickte er zwei Riesenpakete an „den RP“.
Nur auf das Paketehorten habe ich verzichtet. Was kann unsereinem außer Du-du! passieren?
Zu meiner Zeit war so was möglich. Das hat sich anscheinend geändert. Wenn ich lese, zu welch ungeahnter Betriebsamkeit heutige Schulverwaltungen sich aufschwingen, frage ich mich: Was soll der Besucher überhaupt? Soll er mehr anspornen, um Leistungen zu stabilisieren und zu verbessern? Helfen, den oft wirklich schwer erträglichen Druck zu ertragen? Ideen weitergeben, Tips, Kontakte vermitteln? Mut machen? Oder soll er mehr kontrollieren?
Heute, scheint mir, wird Kontrolle verlangt. Aus Sicht der Administration ist das sogar verständlich:
Jahrzehnte lang vernachlässigte sie ihre Schule, bis endlich fremde Länder von Neuseeland bis Irland auf uns zeigten, und weil sie ihre Veranstaltung nicht sanieren kann oder will, drückt sie die Lehrerschaft, und nun muss kontrolliert werden, ob der Druck erfolgreich zu nennen sei.
Neuerdings, lese ich, schreiben in manchen Ländern Schulleiter die Urteile. Und für das Einsortieren ihrer Kolleginnen und Kollegen in Schubladen werden ihnen Quoten genannt. Dass ein ganzes Kollegium gut sein könne, ist nicht vorgesehen. Beampte, die vom Wesen der Variation keine Ahnung haben, wünschen, dass für Urteile über Lehrer eine frei erfundene „Normalverteilung“ zugrunde gelegt werde. So ruiniert man das Klima in den Kollegien. Böser Wille ist das nicht; nur hoch bezahlte Narretei.
Wenn ich auch noch lese, dass in meinem Heimatland komplette Schulamtsbesatzungen in einzelnen Schulen und bei einzelnen Lehrerinnen anrücken um zu prüfen, ob diese die im Vierteljahrestakt verordneten Neuerungen umgesetzt haben, für jedes ihrer 25, 28, 30 Kinder eine Akte mit Lernstands- und Förderberichten führen, die Lesekompetenz der Kinder den Vorschriften entspricht, die Mathekompetenz hellen Lichtes erstrahlt und und und, ob also der Druck auf die Lehrerinnen Erfolg hatte, dann bin ich froh, nicht in der Haut meiner heutigen Kolleginnen und Kollegen zu stecken.
Du siehst, lieber Sohn, Urteile über Unterricht, die richtig und verlässlich scheinen, sind es mitnichten. Und den festen Punkt, welchen Du suchest, wirst Du in der Schule so wenig finden wie irgendwo sonst hienieden. Das dünkt mich auch gut so: Du kämest sonst nur auf dumme Gedanken und träumtest des Archimedes’ Traum, etwas Großes auszuhebeln, das sich nicht aushebeln lässt und Dir nur ein Bruchleiden verschafft.
So gibt es also in Pestalozzis Werkstatt zwar ein Amt, bei dem Ja Ja ist und Nein Nein, das klar entscheidet, was gut sei und was schlecht – aber um Pestalozzi Willen: Verlass Dich nicht auf seine Urteile!
PS: Zum zweiten Amt in der Schule mit Unfehlbarkeitsanspruch bei der Leistungsbeurteilung schreibe ich später: zu Dir und Deinen Kolleginnen und Kollegen.
In memoriam meiner Kollegen Theo Beck
und Heinz Engelberg