Lehrers Zeughaus (Staatsmacht gegen Störer)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Dienstag, 11. Oktober 2011 12:42
„Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag will die Altersgrenze für die elektronische Speicherung personen-bezogener Daten von bisher 16 Jahren auf 14 oder 12 Jahre absenken. ... Damit solle eine bessere Überwachung ter-rorverdächtiger Minderjähriger erreicht werden. “
FOCUS ONLINE am 20.2.2009
In mein letztes Achtes kam eines Tages Jens, fast 18. Binnen weniger Wochen wurde er zum Schrecken seiner Mitmenschen. Keinen Tag gab es ohne Verletzte. Anlass zum Schlagen schuf er sich selbst: „Der hat mich so frech angekuckt!“ Eltern erhoben ihn in den Rang eines „Terroristen“. Wochenlang versuchte ich erfolglos, mich in sein Vertrauen einzuschleichen.
Allein der Gedanke, gegen Jens das Instrumentarium des Zeughauses zu nutzen, das mein Dienstherr mir für solche Fälle zur Verfügung gestellt hatte, erschien lächerlich. Das war drinnen in zwei Abteilungen gegliedert: die sogenannten Erziehungsmaßnahmen und die „Ordnungsmaßnahmen“. Die Unterscheidung war reine Klinkefisterei. Für die Betroffenen bestand der Hauptunterschied darin, dass gegen „Erziehungsmaßnahmen” sowieso nichts zu machen war, während man gegen den Verwaltungsakt einer „Ordnungsmaßnahme” deshalb meist hilflos war, weil es an der nötigen Nervenkraft und Leidensfähigkeit mangelte, um dagegen anzugehen.
Gleich am Eingang standen „Ermahnung” und „Rüge” bereit. Die poetische Folge ihrer Anwendung hieß „Eintragung ins Klassenbuch” und bildete gelegentlich eine peinlich-ergötzliche Lektüre („stört den Unterricht durch dauernde Fragen”, „steigt unaufgefordert aus dem Fenster" – beides selbst gelesen).
Dann folgten „Nacharbeit unter Aufsicht” und Strafarbeit, die aber nicht so genannt werden durfte (Bewertung der hier erbrachten „Leistung” nur in Ausnahmefällen zulässig).
Weiter hinten gab’s die Abteilung „Ausschluss vom Unterricht” vulgo Rausschmiss. Die begann mit dem handlichen „Ausschluss von der laufenden Unterrichtsstunde”. (Bestand die Gefahr, dass der Rausgeschmissene auch „draußen stört oder Schaden anrichtet, indem er dort lärmt”, Fensterscheiben einschlägt oder ausgestopfte Wiesel klaut, musste seine Beaufsichtigung sichergestellt werden. Eine Lachnummer.
Schwereres Gerät war der Rausschmiss für längere Zeit. („Schüler ist verpflichtet, den versäumten Unterrichtsstoff nachzuarbeiten”, was offenbar also auch ohne Unterricht möglich war.) Glanzstück der Sammlung war eine Gruppe stabiler Werkzeuge, deren Benutzung als Kombi-Instrumente ausdrücklich empfohlen wurde: Überweisung in eine Parallelklasse, Androhung der Entlassung von der Schule und schließlich die Entlassung.
Das ganze Arsenal war, rechtskundige Erläuterungen und Kommentare mitgerechnet, auf einem halben Hundert Seiten inventarisiert. Aber auf keiner Seite stand auch nur ein einziges Wort dazu, dass der Ladeninhaber unzähliges Fehlverhalten selbst bewirkte oder doch verstärkte: Die schulverpflichteten jungen Menschen packte er in große Blöcke nach dem Zufall ihres Geburtsdatums zusammen. Er ließ es zu, dass mein Jens unter Vierzehn- und Fünfzehnjährige kam. Für Landstraßen tat er mehr als für Kindertagesstätten. Er hielt am frühzeitigen Aussortieren fest, obwohl er das nur mit Gründen einer dumpfen Ideologie begründen konnte. Seine Angestellten verpflichtete er, für eine genau festgelegte Minutenzahl „Fächer” zu unterrichten. Darum ließ er sie auch für „Fächer” ausbilden und nicht für Menschen. Dass seine Angestellten eigenverantwortlich agieren könnten, traute er ihnen nicht zu. Er zwang sie, die Leistungen der Zwangsmitglieder in ein Ziffernkorsett zu stecken und ließ die blind waltende Tyche mit Zehntel- und Hundertstelnoten hantieren.
Das musste Folgen haben. Aber der Ladeninhaber erwartete von seinen Angestellten, sein Arsenal zu benutzen. Nicht ein einziges Mal war das störende Kind auch Opfer. Immer war es nur Täter.
Als ich den Jens nach vielen Wochen Telefonierens und Schreibens endlich losgeworden war, missfiel ihm das Heim, und er warf aus einem Fenster des zweiten Stocks einen Ziegelstein auf den unten spazierenden Erzieher. Der kam mit einem Schlüsselbeinbruch davon.
Jens war mein dornigster Fall, und ich habe ihn verloren. Aber nach kurzer Zeit blieb nur eine bedrückende Erinnerung. Als immer wieder mal belastend erlebte ich dagegen die vergleichsweise kleinen Verwirblungen des Alltags, die man mit nach Hause schleppt und für die mein Dienstherr mir die Geräte aus seinem Schuppen empfahl. Ich kann mich nicht erinnern, jemals bei einem meiner Alltagsprobleme den Eindruck gehabt zu haben, ich könnte es mit dem Zeug aus dem Schuppen pädagogisch vernünftig lösen.
Sollte so ein Zeughaus auch neben eurer Schule stehen, habe ich einen Vorschlag: Schreddert die Inventarliste, gebt das Pulver in das Reagenzglas eurer Selbstachtung und stellt den Bunsenbrenner darunter. Alsbald wird sich ein nach Hühnerschiet riechendes, in der Luft Schlieren bildendes Gas entwickeln. Das wird euch bestätigen, recht getan zu haben.