Was wichtig ist (Über gute Schulleitung)

Es geht um die Herstellung einer fundamentalen Stimmigkeit — um einen glaubwürdigen Umgang von Menschen mit Menschen.

Hartmut von Hentig (Ach, der von Hentig! *)


Liebe Kollegin,

ich weiß nicht, wie es heute bei „Revisionen“ zugeht.  Dass sich seit meiner Zeit viel geändert haben könnte, glaube ich allerdings nicht. Was sollte das denn sein? Das Wichtigste mussten und müssen Revisoren mehr spüren als erkennen.

Es gibt nichts Wichtigeres in der Schule als die Beziehungen ihrer Menschen zueinander. Und für diese wiederum gibt es keinen wichtigeren Menschen als Schulleiterin und Schulleiter.

Liebe Kollegin, die Kriterien, nach denen du kürzlich gewählt wurdest, taugen nicht. Du kannst unterrichten. Besser gesagt: Die dir das Zertifikat gaben, nachdem du ihnen „vorgeturnt“ hattest, meinen, du könntest unterrichten. Aber kommt es darauf bei einer Schulleiterin mehr an als bei Lehrerinnen? (Und was verstanden Deine Besucher eigentlich unter gutem Unterricht?)

Du kannst eine Konferenz leiten. Na und? Ist das etwa eine Hauptaufgabe von Schulleiterinnen?

Außerdem haben sie dir diesen unsäglichen Vorschriftenfolianten präsentiert, haben dir ein ausgefallenes Problem vorgestellt („ein Fall, der wirklich passiert ist!") und dich aufgefordert, mit Hilfe des Folianten die korrekte Lösung des Problems zu finden. Aber das ist ein pädagogisch verkehrtes Verfahren. Wenn es Probleme gibt, hast du zuerst zu fragen, was dem Kinde nützt; und danach magst du im Folianten suchen, wie du deine pädagogische Entscheidung im Notfall foliantisch begründen und  rechtfertigen kannst. Nur im Notfall!

Sie haben dich auch nach dem „gegenwärtigen Stand von Fachdidaktik und -wissenschaft” gefragt. Da du des Lesens kundig und auch recht fleißig bist, warst du natürlich auf dem Laufenden. Immer noch ist nicht zu sehen, was an der Überprüfung auf deine Qualifikation als Schulleiterin
 zielte.

Schließlich hat eine hilfsbereite Kollegin für dich in ihrer Klasse „eine Lektion gehalten" („Lektion“! Sie lernen es nicht!), und ihr, alle Mann/Frau hoch, habt dabei zugesehen. Danach hast du mit der Kollegin ein „Beratungsgespräch” geführt. Auch das hat mit deiner Qualifikation nur am Rande zu tun. Natürlich war dieser Teil der Veranstaltung getürkt. Mindestens die Gesprächsschwerpunkte hattet ihr vorher abgesprochen, sonst wärst du auch schön dumm gewesen.

Kurz: Die Kriterien, nach denen du ausgewählt wurdest, sind lauter Notbehelfe. Aber das ist den Prüfern nicht vorzuwerfen. Die wirklich wichtigen Kriterien können sie bei so einer Veranstaltung überhaupt nicht prüfen: Kannst du ein freundliches Klima in deiner Schule schaffen? Lebst du dem Kollegium vor, dass erst die Kinder kommen und dann die Kinderordnung? Bist du fähig, die verschiedenen Individuen und Gruppen in deinem Kollegium behutsam zu einer pädagogischen Arbeitsgemeinschaft zusammenzuführen? Kannst du deren Motor sein? Wie weit bist du in der Kunst fortgeschritten, Frieden zu stiften, ohne Verlierer zu hinterlassen? Kannst du eine Lehrerin wiederaufrichten, wenn sie, ausgelaugt von ständiger Überforderung, mittags plötzlich zu weinen beginnt? Kannst du das auch dann, wenn du dich selber „leer“ fühlst? Hast du die Courage, Vorschriften kinder- und lehrerfreundlich zu interpretieren (und darüber nicht zu reden)? Kannst du Bundesgenossen gewinnen, die aufmarschieren, wenn man dir ans Leder will? Hast du ein „geschicktes Händchen” heim Umgang mit Eltern? Kurz: Kannst du die „fundamentale Stimmigkeit” herstellen, die aus der Anstalt einen Lebensraum für Menschen macht?

Das sind die Qualitäten, die du als Schulleiterin brauchst. Niemand verfügt über sie alle und immer. Und überprüfen in einem der üblichen Verfahren kann sie erst recht niemand.

Aber du kannst dich an ihnen messen, damit du die Alltagsgeschäfte, denen du in deinem Büro zu obliegen pflegst, immer wieder richtig einordnest.

Auch wenn lauter Verwaltungshandeln von dir erwartet wird: Es ist nicht das Entscheidende. Sondern die Beziehungen der Menschen untereinander sind es. Und nur, wenn dir das Entscheidende möglichst oft gelingt, wirst du aus deinem Amt die Befriedigung ziehen, die du erwartest und verdienst.

* Trotz seines moralischen Bankrotts: Wo er Recht hatte, hatte er Recht ...

(abgedruckt in der Zeitschrift b:s | Beruf: Schulleitung, April 2012)