Sympathie für die "Glatzen" (Die so genannten Nazis)

Wenn du in eine westliche Schule gehst, 
wo es vor allem darauf ankommt, 
mit deinem Banknachbarn zu konkurrieren, 
wie sollst du da geistige Offenheit entwickeln?

Tiziano Terzani in: „Das Ende ist mein Anfang“


Im Winter 1944 gehörte ich zur Minderheit jener, die eine Winteruniform der Hitler-Pimpfe besaßen, und ich hatte dem Stammführer vorschriftsmäßig „offen und frei ins Auge“ geblickt, sodass ich für einen „Führer-Lehrgang“ ausgewählt worden war. Die rot-weiße Doppel-Schnur des untersten Grades habe ich nie erhalten, weil die Rote Armee schneller war. Aber dem Jungzug-Führer habe ich helfen dürfen, mit unserem Zug korrektes Marschieren so zu üben, dass wir erstmals in Kolonne durch die Stadt ziehen durften.

Dabei sangen wir, was wir mit der zackigsten Inbrunst am besten brüllen konnten:

„Ihr Juden und Spießer, nehmt euch in acht!
Wir sind die alten noch heut'!
Wir schlagen euch sämtliche Knochen entzwei
und räuchern die Tempel euch aus!“

Eine der hellen Schreistimmen war meine.

Neuerlich werden solche Lieder in der Öffentlichkeit gebrüllt: „Zerschlagt den andern das dumme Gesicht!” („Böse Onkelz”, als „bekehrt“ geltend)

Sie grölen auch, wogegen unser Lied vom Tempelausräuchern Folklore war:

„Steckt sie in den Kerker
oder steckt sie ins KZ,
von mir aus in die Wüste,
aber schickt sie endlich weg!
Tötet ihre Kinder, schändet ihre Frau 'n,
vernichtet ihre Rasse,
und so werdet ihr sie grau 'n“.

(„Kanaken-Song“, unverändert im Repertoire mehrerer Bands).

Die Masse der Brüller gehört zu den Verlierern der Gesellschaft. Das sind die, über die uns vor ein paar Jahren in den Lehrerzimmern immer wieder mal die Bezeichnung „die Schlechten” (im Gegensatz zu den „Guten”) herausrutschte.

Einst waren wir angetreten, immer mehr Kindern zu immer besseren Abschlüssen zu verhelfen. Und nun bringt unser Schulsystem, das einmal alle zu Gewinnern machen wollte, Verlierer scharenweise hervor, sodass nach jeder neuen internationalen Untersuchung unsere Nachbarn mit Fingern auf uns zeigen.
Die da mit rhythmisch gereckten Fäusten Hass brüllen, sind zehn Jahre oder mehr unsere Schüler gewesen. Als das Gesetz sie in die Schule zwang, hatten viele schon sechs Jahre Schädigung hinter sich. Menschen hätten sie gebraucht; Fach-Leute haben sie bekommen, alle 45 Minuten neue. Nach Zuwendung haben sie sich gesehnt; in Dreißiger-Blocks wurden sie abgepackt, damit sie nicht so teuer kamen. Anerkennung hätten sie erleben müssen, wenn sie das ihnen Mögliche leisteten; die Durchschnitts-Elle mit der Sechser-Markierung wurde ihr Maßstab. Selbstwert hätten sie erfahren müssen, Unwert wurde ihnen bescheinigt: fünf, sechs, fünf, sechs. Lest die Zahlenkolonnen hinter ihren Namen in unseren Notizbüchern!

„Du ließest dich beleidigen zu jeder Zeit,
denn du schämtest dich deiner Vergangenheit”

(die Gruppe „Endstufe” in ihrem Song „Zusammenhalt").

Und so, mit dieser Prägung, hat die Staatsanstalt sie ins Berufsleben geschickt. Da blieben sie, was zu sein sie gelernt hatten: Verlierer. Unsicher, ängstlich, gedemütigt erlebten sie sich weiterhin als die Benachteiligten, nun auch noch bedrückt von beruflichen Problemen und Existenzängsten.

Was tut ein Mensch, den sein Leben die Verliererrolle gelehrt hat? Die Masse lernt, sich für minderwertig zu halten und in Demut sich zu bescheiden. Die Stärkeren unter ihnen aber nutzen die Gelegenheit, die sich ihnen heute bietet, wehren sich und suchen Genossen, Gruppen, in denen sie akzeptiert werden.

„Wo es auch scheppert, wie es auch kracht,
von ihnen wirst du niemals ausgelacht”
(aus dem „Störkraft"-Song „Unter Froinden").

Die wären Nazis? Lächerlich! Als Kind hatte ich nach zwei Jahren Pimpfzeit mehr NS-Gedanken“gut“ in mir, als ganze Horden von denen als Summe vorweisen können. Ich kann in den Glatzköpfen mit den gereckten Fäusten auch keine Unholde sehen. Ich habe Sympathie für sie. Sie wehren sich, weil sie sich mit ihren Demütigungen nicht abfinden wollen. Und die „Szene“ bietet ihnen die Gelegenheit dazu. (Von dem Politgesindel der Wortführer und den Prügel-Prolos reden wir nicht.)

Sind wir wieder mal schuld? Sonderlich Regierende zeigen ja seit jeher bei Problemhäufungen gern auf uns. „All das Elend, das im verflossenen Jahre über Preußen hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld“, pöbelte 1849 Friedrich Wilhelm IV. vor Lehrerausbildern und Volksschullehrern über ihre Verantwortung für 1848.

Gott sei’s geklagt: Es gibt pädagogische Vollzugsbeamte unter uns, die „Kollege“ zu nennen ich mich weigere. Aber wären da nicht Tausende von Lehrerinnen und Lehrern, die gegen die Zwänge dieses Schulsystems angehen, jeden Morgen neu, alleingelassen von den Oberen und oft gegen sie - es wäre alles noch viel schlimmer. Wo Schule human ist, da ist sie es durch Pädagoginnen und Pädagogen, nicht als System. Wo Schule mehr ist als die ihr zugedachte Rolle als Berechtigungsanstalt: Lebensraum für junge Leute, da machen das die Arbeiter der A-Besoldung.

So weit als möglich (so weit als möglich, mehr geht nicht!) legen sie ihr Kontrastprogramm auf: Klassenlehrer-Prinzip stärken, „fachfremd“ unterrichten, um menschliche Beziehungen möglich zu machen; Benachteiligte bevorzugen; in Schülern nicht Benotungsobjekte, sondern Kinder und junge Leute sehen. Der verfluchten Zensiererei zum Trotz etwas Selbstwertgefühl vermitteln. Von niemand mehr verlangen, als er leisten kann. Nicht nur Leistungen anerkennen. Geborgenheit erfahren lassen.

„Denn unter Froinden,
ja da gibt 's festen Halt” („Störkraft"-Song).

Nein, schuld sind wir nicht. Aber als Dienstverpflichtete beteiligt, ob wir wollen oder nicht.

4. Juni 2007