Elkes Mutter und die OECD (Partisanentechnik gegen Vernachlässigung)

„Die gesamten öffentlichen und privaten Ausgaben für Bildungseinrichtungen in Deutschland hatten in den letzten Jahren rückläufige Tendenz. Unter den OECD-Ländern ... gaben nur die Slowakei, Tschechien und Italien einen geringeren Anteil der Wirtschaftsleistung für Bildung aus.“
(Aus der OECD-Studie 2010)


Seit vielen Jahren bescheinigt uns die OECD, bei den Ausgaben für Bildung gehörten wir zu den Letzten. Nur im Senken seien wir Spitze. Und die sich im Ranking vor uns tummeln, taten das schon zu meiner Zeit. Bedenkt man, was Politik und Verwaltung so von sich geben, mag man das gar nicht glauben. Die senken wirklich! Die senken, obwohl auch jene fünf Milliarden bei den Bildungsausgaben eingerechnet sind, mit denen Eltern unsere Nachhilfeindustrie am Laufen halten.

Dennoch: Die Statistiken waren schon zu meiner Zeit falsch. Denn Elke und ihre Mutter waren nicht berücksichtigt.

Nur mit Mühe konnte sich meine Schule einen Tageslichtprojektor leisten. Weil ich wusste, dass der im Schulverwaltungsamt für die Restmittel zuständige Angestellte Schnapsfläschchen möglichst exotischer Art sammelte, schenkte ich ihm ab und zu welche und verstand mich als Tauschpartner. Für weitere Projektoren reichte es dennoch nicht. Da ging ich ans Geld der Eltern, gründete einen Schulverein und ließ den ins Register eintragen. Der Verein gab uns Geld. Das wusste die OECD nicht.

Jahr für Jahr untersuchte das Gesundheitsamt der Stadt unsere Kinder auf „Sonderturnbedürftigkeit“.  Es drohten, hieß es, lebenslange Haltungsschäden. Mein Schulverwaltungsamt bekam die Liste der Kinder, bei denen Schäden verhindert werden sollten. Aber städtische Beamte taten nichts, als alle Jahre wieder Löcher in die Listen zu machen. Weil ich auf Fragen patzige Antworten erhielt, steckte ich das der Zeitung. Die machte einen großen Bericht. Es gab nicht die geringste Reaktion. Da engagierte ich Elkes Mutter. Die bot in unserem für sportliche Bewegung umgebauten Kellerraum ein Sonderturnen an. Die Eltern zahlten das Turnen und der Schulverein die Versicherung von Elkes Mutter. Die OECD wusste das nicht.

Eine Kollegin mit besonderer Schwimm-Qualifikation hatte meine Schule nie. Dennoch konnten in meiner Klasse alle Kinder mehr oder weniger gut schwimmen. Das machte Elkes Mutter. Elke war meine Schülerin und ihre Mutter auch für Wasserkünste lizenziert. Geld hat sie für ihre Arbeit nicht bekommen. Aber zählt so etwas etwa nicht zu den Bildungsaufwendungen?

Ich erinnere mich nicht, dass an meiner Schule jemals alle Stellen besetzt gewesen wären, die die Diät-Kommissare der Regierung uns zugestanden. Dass wir uns doppelt schlugen, wenn eine Kollegin krank war, galt uns als ebenso selbstverständlich wie „Doppelordinariate“ in Dreißiger-Klassen. Unter diesen Umständen muss ein Schulleiter fürchten, was feinfühlige Soziologen „menschliche Reproduktion“ nennen: Als eine neue Kollegin sich vorstellte und ich sie fragte, wie sie grundsätzlich zu einer Schwangerschaft stehe, stand ich beidfüßig im Fetteimer, denn sie war eine glaubensstrenge Ledige. (Bitte: Ich gebe ihr doch nicht zwei Erste oder zwei Vierte, wenn sie zu Ostern in Mutterschutz gehen könnte und wir keinen Ersatz kriegen!)

Dass wir schon früh einen Kopierer einsetzen konnten, ein auf dem Boden stehendes Monstrum, verdankten wir drei Männern: Pauls Vater, einem Betriebsleiter, der ihn uns spendete, als er abgeschrieben war, dem Schulvereins-Vorsitzenden, der trotz seines Beamtenstatus’ eine Spende im Wert von fünftausend Mark bescheinigte (gemach: beide sind tot), und Annis Vater, der uns Jahr für Jahr das damals noch erforderliche Spezialpapier schenkte (ohne Spendenquittung – er lebt noch).  Die OECD erfuhr das nicht.

Mit der unsereinem geziemenden Bescheidenheit sei angemerkt: Zu den „privaten Ausgaben für Bildungseinrichtungen“ zählen doch wohl auch die von uns Lehrern. Den Vierzig-Schubladen-Schrank mit Fächern für jedes Kind hatten wir aus einem aufzulösenden Friseurladen abgeschleppt (und – wir sind ja Beamte! – ordentlich ins Inventarverzeichnis übernommen, sodass er ins Eigentum der Stadt Wuppertal überging). Die Sitzpolster für freies Lesen hier und da im Klassenraum waren geschenkte Teppichmuster eines Fachgeschäfts. Viele Arbeitsmittel bastelten wir selbst und schnorrten das Material dafür in zwei Druckereien. Selbstgemachte Bücher unserer Klassen druckte die Druckerei eines großen Betriebs in einer Nachbarstadt. (Zu unserer Gegenleistung verweigere ich die Aussage.) Und war das etwa keine geldeswerte Leistung, wenn wir mit unseren Klassen wochenlang ohne einen Pfennig Tagegeld unterwegs waren und die Reisekosten selbst bestritten?

Warum waren alle diese Aufwendungen in den OECD-Statistiken nicht enthalten? Unsere Behörden sagten es ihr ja nicht. Schämten die sich etwa? Nö. Es interessierte sie eben nicht.

Elke hat längst selber Kinder. Sie setzt inzwischen die Tradition ihrer Mutter fort. Auch im nächsten Jahr wird uns die OECD vorrechnen, wie weit wir hinter anderen zurück sind. Von den Elkes aller Art wird sie immer noch nichts wissen.

Die Fülle von Einschränkungen, Behinderungen, Erschwerungen und Mängeln erlebte ich oft als administrativ korrekte Kampfhandlungen gegen pädagogische Vernunft und Verantwortung. Ich fühlte mich als Kombattant, der sich wehren musste. Im Krieg aber gilt Kriegsrecht. Als von vornherein unterlegene Partei habe ich mich möglichst eines Verzichts auf Waffenklirren und Kriegsgeschrey befleißigt.

Unfassbar, dass Partisanenkampf immer noch nötig ist – und dass Heutige es ebenso hinnehmen wie wir zu meiner Zeit.