Ich gräme mich nicht (Mit eigenen Fehlern umgehen)

Wer arbeitet, macht Fehler; wer viel arbeitet, macht viele Fehler. 
(Volksmund)


23 Jahre lang bin ich Lehrer gewesen. Jedes Jahr gerechnet zu 40 Unterrichtswochen sind 920 Wochen. Je 5,8 Tage ergeben mehr als 53.000 „Stunden“. Zwangsläufig habe ich  viele Fehler gemacht, läppische und gewichtige. Solche, die unsereinem bei Prüfungen angekreidet werden, rechne ich nicht mit. Sie sind überwiegend belangloses Kikifax, denn sie betreffen selten Menschen. Aber ich war unkonzentriert, ungerecht, unsensibel, oberflächlich, leichtsinnig, lustlos,  voreilig, verärgert, reagierte zu schnell und, und, und. Nicht selten konnte ich mit den mir gegebenen Möglichkeiten Fehler überhaupt nicht vermeiden. Und viele habe ich nicht mal erkannt.  Kurz: Ich war ein Lehrer. Mit meinen Fehlern umzugehen,  war  in meinem Gehalt enthalten.

Vor ein paar Jahren traf ich die verbliebenen Reste meiner Achten, die ich vor vierzig Jahren entlassen hatte. Die fragte ich: „Erinnert ihr euch an Hans-Jürgen, damals in der Kombination 4/5?“ Niemand erinnerte sich. Auch ich hatte ihn jahrzehntelang vergessen gehabt.
Kurz vor dem Klassentreffen hatte ich meinen Schreibtisch aufgeräumt. Zwanzig Lehrerkalender hatten sich im hinteren Ende der untersten Schublade gestapelt. Das waren jene roten Büchlein, die Sparkassen alljährlich Lehrern spendierten und die wir für Namenslisten, Zensuren und allerlei Notizen zu nutzen pflegten.

Nun, nach so vielen Jahrzehnten, schien es mir übertrieben, die alten Kalender auf-zubewahren. Ehe ich sie in den für die Müllverbrennung bereitstehenden Karton warf, griff ich noch einmal einige heraus und blätterte darin.

Als ich Hans-Jürgens Namen las, erinnerte ich mich sofort. Ich war damals morgens auf den Schulhof gekommen und wurde mit der Nachricht empfangen:  „Hans-Jürgen hat sich umgebracht.“ Die Kriminalbeamten hatten mir versichert: „Damit haben Sie nichts zu tun. Es waren die Familienverhältnisse.“ Mit einer sinnreichen Konstruktion hatte er sich am elterlichen Kleiderschrank erhängt.

Nun also sah ich die Zahlenkolonnen hinter Heinz-Jürgens Namen. Da standen die Noten, die ich ihm zugefügt hatte: Fünf, Fünf, Sechs, Fünf, Vier ... Ich wusste: Hätte ich Schule so veranstaltet, dass er sich darin wohlfühlte, würde er vielleicht keinen Anlass gehabt haben, sich umzubringen. Wer morgens in froher Erwartung pfeifend zur Schule geht, bringt sich nicht nachmittags um, egal wie zerrüttet die Familienverhältnisse sind.

Mit Heinz Jürgens Klasse hatte ich mich nach Lehrers Lustprinzip verbraucht, hatte die Kinder und jungen Leute gern, zeigte es auch, bemühte mich ernsthaft, gerecht zu sein, war meistens „gut drauf“, übte mich in der Rolle des partnerschaftlichen Bosses und war oft wochenlang mit ihnen unterwegs. Nie in jenen Jahren war mir der Gedanke gekommen, dass ich Kinder schädigen könnte.  Ich habe an Heinz-Jürgens Tod mitgewirkt.  Es war eben so, wie es war. Ich war eben so. Ich gräme mich nicht. Wo käme ich denn auch hin?

Erst in meiner zweiklassigen Schule Tintrup, nach ein paar Jahren Lehrerseins, begriff ich, dass ich Kinder schädige, wenn ich nicht ihr soziales und emotionales Wohlbefinden genauso ernst nehme wie ihr Lernen. Damals erkannte ich auch, dass ich nicht nur der Schüler Leistungen beurteilte, sondern immer zugleich meine. Normgymnasiales Geschwätz, mangelhaft sei nun mal mangelhaft, verdient jedenfalls keine Sekunde Nachdenkens.

Einstens bedrängte uns in einer Fortbildungs-Veranstaltung ein beschwörend ar-gumentierender Psycho-Prof, was wir in Kindern anrichteten, wenn wir sie anschrien. Just am Vortag hatte ich den Achim lautstark zusammengestaucht.  Aber meine Beziehung zu Achim war so gefestigt, dass ich sie auch durch gelegentliches Anschreien nicht dauerhaft beeinträchtigen konnte. Schaffe ich es, dass es einem angeschrienen Achim auf dem Heimweg wieder bewusst wird: Eigentlich hat der mich gern und traut mir was zu!, kann meine Schreierei nicht viel Schaden angerichtet haben. (Na ja, es mag ihm auch erst morgen wieder klar werden. Vielleicht auch muss ich da noch mal nachhelfen.) Das ist es: Wenn ich durch meine Fehler unsere Beziehung nicht nachhaltig  störe, ist alles halb so wild.  (Im schlimmsten Fall, wenn alle meine Sicherungen durchgebrannt waren, habe ich mich hernach auch mal entschuldigt. Selten genug, aber nie ist es in der Klasse so still wie bei solchem Anlass.)

Nach und nach habe ich mir eine „pädagogische Haltung“ (Hans Brügelmann) angeeignet: Ich war mir bewusst, nicht nur für Schüler verantwortlich zu sein, sondern für Kinder. Seither gilt erst recht: Meine Fehler grämen mich nicht.

Gedenkt unserer Brüder und Schwestern in Bayern. Sie haben’s schwer.