Meine kleine Gerechtigkeit (Lehrers Gerechtigkeit)

Ich schwöre, dass ich das mir übertragene Amt nach bestem Wissen und Können verwalten, Verfassung und Gesetze befolgen und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.  
(Diensteid für Lehrer in NRW)


Im Büro erscheint Alessandra, neunzehn Jahre alt, Italo-Deutsche und von ungewöhnlich ausladender Erscheinung. Sie will den Hauptschulabschluss nachmachen und zeigt ihr letztes Zeugnis. Es ist ein Abgangszeugnis aus Klasse 9 eines Gymnasiums in unserem Kreis. Zwei Fünfen: Erdkunde und Physik, dazu eine Sechs in Sport. Die beiden Fünfen hätte sie sich leisten dürfen, um an ihrer Schule den Hauptschulabschluss zu kriegen. Die Sechs ist zuviel. Nach elf Jahren Schulbesuch hat ein Dutzend Pädagogen sie ohne jeden Schulabschluss der Anstalt verwiesen. Ihr ist die Gerechtigkeit der Versetzungsordnung widerfahren. Eine gescheiterte Existenz mit 19.

Ich rufe die Sportlehrerin an. Vielleicht lässt sich an der Sechs ja noch was machen, dann sparen wir uns den Aufstand wegen der Hauptschulabschluss-Prüfung.

Wie das denn gewesen sei mit der Sechs in Sport. Sie schwingt sich aufs Beamtenross und belehrt mich über ihre Pflicht zur Verschwiegenheit.

Ich kitzle sie ein wenig. Ob es vielleicht sein könnte, dass die junge Frau sich einfach schämte, ihre wogenden Körpermassen im Sportdress zur Schau zu stellen, zumal Mädchen und Jungen oft gemeinsam Sportunterricht hatten.

„Na und?” trompetet die Kollegin, A 14, fünftausend Mark netto, die Bedingungen seien schließlich für alle gleich gewesen. Wo bliebe denn sonst die Gerechtigkeit.

* * *

Auf einer Fortbildungsveranstaltung erzähle ich von Anna, Klasse 4. Zweimal hintereinander hat sie eine Fünf im Diktat geschrieben. Nur mit Mühe habe ich sie dazu gebracht, dennoch fürs nächste zu üben. Noch einmal schreibt sich Anna die Finger krumm. Ich weiß: eine weitere Fünf, und sie ist am Boden. Dann werde ich sie so bald nicht wieder zum Üben bewegen können. Darum braucht sie jetzt unbedingt das Erlebnis eines Erfolgs. Lieber Gott, ein ganz kleines nur, bitte schön!

Ich korrigiere Annas Text in fliegender Hast. Acht Fehler. „Ausreichend” geht nur bis sieben. Das habe ich vorher festgelegt.

Ein Mensch übt Gerechtigkeit, wenn Wille, Mut und Vernunft in richtigem Verhältnis zueinander stehen. Die Vernunft regiert. Erklärt Platon in seiner Politeia. Jeder solle das Seine für die Gemeinschaft tun, und zwar in Art und Umfang so, wie es seinem Wesen, seinen Möglichkeiten und den individuellen Umständen entspricht.

Na also. Mein Wesen, meine Möglichkeiten und die mir gegebenen Umstände kannte ich doch! So nahm ich ein paar Schreiber, probierte die passende Farbe aus und malte hinter das einsame l am Ende von „Stall” ein zweites.

Triumph! Sieben Fehler! Ausreichend! Anna schreit: „Und ich hab gedacht, ich hätte „Stall” mit einem l geschrieben!”

Diese Geschichte erzähle ich als Beleg dafür, dass ich für differenzierte Diktate plädiere, um solche Verrenkungen zu vermeiden.

Eine zuhörende Kollegin ist entsetzt: „Aber das ist ja Urkundenfälschung!” (Eine ergötzliche Vorstellung, Diktattexte, diese Perlen deutscher Prosa, könnten Urkunden sein.)

Habe ich nun Gerechtigkeit geübt, wie ich geschworen habe?

Ja. Gerechtigkeit gegen Kinder ist etwas anderes als die Gerechtigkeit der Straßenverkehrsordnung. In der Hand von Pädagogen wird ein starres Recht, das auf die persönliche Situation des einzelnen Kindes keine Rücksicht nimmt, zur Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit kann für uns nur heißen, dem einzelnen Kind gerecht zu werden.

Bei Anna heißt das, ihr zu geben, was sie für ihre Entwicklung braucht. Ein unerreichbares Ideal. Aber vermeiden, was ihrer Entwicklung schadet: Das kann ich wenigstens ab und zu. Das ist meine kleine Diensteid-Gerechtigkeit „nach bestem Wissen und Können“.

Und Alessandra? Die pädagogische Vollzugsbeamtin hatte andere Vorstellungen von Gerechtigkeit. Nachdem sie mich am Telefon belehrt hatte, war mir klar, dass Alessandra eine schwere Ungerechtigkeit widerfahren war. Mit dem normativen Begriff Gerechtigkeit aber – wieder Platon - ist die Aufforderung verbunden, ungerechte Zustände in gerechte umzuwandeln.

Das hab ich getan. Schließlich habe ich es geschworen.