Schlechte Lehrer ("Ein Systemfehler erster Klasse")

„Zunächst einmal sollte nur jemand Lehrer werden, der sich für das Aufwachsen von Kindern wirklich interessiert und mit Kindern und Jugendlichen auch gerne zusammen ist.“
(Loki Schmidt in „Mein Leben für die Schule“, 2005)


Zu meiner Zeit konnte jeder Lehrer werden, der es werden wollte, wenn er nur das entsprechende Schulzeugnis  hatte. Einmal forderte mich Hans Brügelmann auf, in einer Grundschul-Fachzeitschrift über unseren Umgang mit schlechten Lehrern zu schreiben. Ich hatte gerade mit mehreren guten Pädagoginnen zu tun, die aus mancherlei Gründen in eine sehr belastende Lebenssituation gerutscht waren und jeden Morgen neu zu kämpfen hatten, die Bedürfnisse der Kinder über ihre privaten Probleme zu setzen. Die wurden nun leichter Hand als „schlecht“ abgetan. Da sind Eltern manchmal ähnlich erbarmungslos-direkt, wie es Kinder untereinander sein können.

Dramatisch unlösbare Fälle waren mir noch nicht untergekommen. Einigen Kollegen hatten wir erfolgreich vorgerechnet, dass eine vorzeitige Pensionierung besser sei als weitere Jahre Quälerei für 100 Mark mehr im Monat, einer hatte sich mit Anwalts Hilfe in ein Studium mit Promotion gerettet, andere Fälle waren durch Teilzeit und und Reaktivierung nach der Pensionierung gelöst worden.

Da verbreitete ich mich über „Die sogenannten schlechten Lehrer“. Frohgemut schrieb ich: Auch in anderen Berufen gäbe es schließlich schlechte Leute, und fragte, was denn eigentlich einen schlechten Lehrer ausmache und wer sich da ein Urteil anmaßen wolle. Die vereinzelten Unholde unter uns werde der Amtsarzt dienstunfähig schreiben, wenn die Aufsicht das nur konsequent betreibe.  Überhaupt: Wenn man schon von schlechten Lehrern rede, möge man bitte bei der pädagogischen Kavallerie anfangen und nicht bei uns, der gemeinen  Infanterie.

Schon im Jahr darauf erkannte ich, was ich verdrängt hatte: dass da der Gewerkschaftsgaul mit mir durchgegangen war. Ein Kollege stand zur Festanstellung an. Ich besuchte ihn einmal, zweimal, dreimal. Da wusste ich: Dieser Mann sollte nicht an Kinder gebunden werden. Seine Anstellung würde „auf Lebenszeit“ gelten , und es bestand die Gefahr, dass die Folgen für manche Kinder lebenslänglich sein würden.  Kinder waren ihm nicht nur gleichgültig, sondern demonstrativ lästig, anscheinend sogar unsympathisch, und sein gesamter Unterricht erschien als ein nur mit Mühe unterdrückter Widerwille gegen elementarste pädagogische Pflichten.  Loki Schmidt formuliert es taktvoll: „Und dann steht da ein Mensch plötzlich vor einer solchen Klasse und weiß nicht damit umzugehen und hat seine Probleme mit den Kindern.“ 

Ich haderte mit meinem Schicksal. Schon für sein erstes Examen hatte der Mann zwei Anläufe gebraucht. Beim zweiten Mal hatte man ihn durch die Tür geschubst. Im Seminar war seine Untauglichkeit offenbar geworden, aber seine Ausbilder hatten sich gegenseitig blockiert. Da durfte er auch durch diese Pforte taumeln – wieder beim zweiten Versuch.

Ein untaugliches System und die Feigheit der Instanzen hatten ihm erlaubt, acht Jahre seines Lebens mit der Ausbildung zum Lehrer zu verbringen. Nun stand er vor der letzten Tür und begehrte Einlass.

Ich beriet mich mit meinen Kollegen im Schulamt und schob die Entscheidung hinaus. Acht Jahre eines Lebens! Ich versetzte ihn an eine andere Schule, versicherte dem Schulleiter, ihn nicht auf seine Stellen anzurechnen und gab ihn einem Kollegen und einer Kollegin dieser Schule in Obhut: Seht zu, dass er sich so gut wie möglich entwickelt. Gebt ihm lauter kleine Aufgaben, beratet ihn dabei, weckt sein Interesse, helft ihm, macht ihm Mut. Und sagt mir nach einem halben Jahr Bescheid.

Sie brauchten keine drei Monate: „Es geht wirklich nicht. Der will auch gar nicht.“

Da verriegelte ich vor ihm die letzte Tür. Eine Katastrophe. Aber ich hatte nur eine Wahl: der Lehrer oder die Kinder. Er habe sich zuerst um seine Bande zu kümmern, sagt Hemingways Pablo, als er fremde Helfer erschossen hat, um seinen Leuten ihre Pferde zu verschaffen: „One cannot do what one would wish.“

Entlassen konnte ihn nur der Regierungspräsident. Dessen Leute kamen mit großem Orchester. Und entließen ihn. Er klagte. Wir mussten einen höheren Tausenderbetrag zahlen und ihm ein vom Gericht  vorformuliertes freundliches Zeugnis ausstellen. Damit ging er. Zum Abschluss von acht Jahren seines Lebens.  Danach habe ich mich betrunken.

Im selben Jahr erlebte ich an einer anderen Schule eine Elternrebellion gegen eine Klassenlehrerin. Zweimal besuchte ich die Kollegin in ihrem Zweiten. An der mechanischen Korrektheit von Unterricht und Amtsführung war nichts Gewichtiges zu beanstanden. Aber um sie war eine Aura der Eiseskälte. Nicht die geringste emotionale Beziehung zwischen Lehrerin und Kindern war zu erkennen. Die Kleinen hatten Angst. Ich redete mit ihr und verstand: Die ist, wie sie ist. Was ihr vorgeworfen wird, trifft sie nicht, weil sie es nicht versteht und also nicht ändern kann. Sie kann nichts dafür, und die Eltern haben Recht.

Das Problem war nicht zu lösen. Gib ihr eine andere Klasse, dann werden andere Kinder geschädigt. Setze sie auf lauter Fachunterricht, und du ziehst ihr den verschlissenen Teppich unter ihren Füßen weg – mit der Folge, dass  noch mehr Kinder leiden. Zum Schuljahresende versetzte ich die Frau, nachdem ich mich mit dem neuen Schulleiter und dem Vorsitzenden des Personalrats beredet hatte. Zwei Jahre später habe ich sie abermals versetzt. Es gibt wohl Lehrer, die kann man einer Schule auf Dauer einfach nicht zumuten. Deren einziger Fehler ist: Lehrer geworden zu sein. Ist so einer erst mal auf Lebenszeit Beamter, kann man nur noch die Last verteilen. „Dann“, sagt Bernhard Bueb, „treibt er aber woanders sein Unwesen. Das ist ein Systemfehler erster Klasse.“

In Finnland haben künftige Lehrer frühzeitig die Möglichkeit, in mehreren Phasen die Eignung für ihren Beruf zu erfahren. Da ist der Veranstalter von Schule in der Pflicht.

Unsere Veranstalter, die Bundesländer, zeigen auf die Hochschulen. Die aber können Lehrerbildung besser als Lehrerausbildung. Also weisen Ministerien, Regierungen und Parlamente aufeinander und erledigen das Problem pflichtvergessen und feige durch Liegenlassen. Dafür muss man sogar einen Hauch von Verständnis haben, denn wer nicht mal die Äppel-Schenkung der EU geregelt kriegte, wird hier erst recht scheitern.

Zu meiner Zeit  konnte bei uns jeder Lehrer werden, der es werden wollte. Daran wird sich auch weiterhin nichts ändern.

(abgedruckt in der Zeitschrift b:s | Beruf: Schulleitung, April 2012)