Wir Schwätzer (Mehr lernen lassen, weniger belehren!)

„Gewöhnlich wird von den Lehrern zuviel geschwätzt.”

Oberlehrer Johann Friedrich Wilberg, 1821


Über Lehrer als Schwätzer kann auch ich was sagen. Ich war selber einer.

Vor vielen, vielen Jahrzehnten schrieb unser Leipziger Kollege Paul Georg Münch: „Individualisieren! Wie lieblich zwitschert dieses Wort seit Jahrhunderten in pädagogischen Werken!“ (Freude ist alles! Leipzig 1927). Zu meiner Zeit war das Zwitschern zu aggressivem Chorgesang angeschwollen:

Wir sollten die „Ausgangslage" jedes einzelnen Kindes in allen Lernbereichen immer wieder ermitteln und dann individuelle Bildungspläne für jedes erstellen. Die das verlangten, meinten das wirklich ernst! Und damit das auch niemand missverstand, schrieben sie es in eine Rechtsverordnung. Die kommt gleich nach dem Gesetz und ist selber Gesetz im materiellen Sinne.

Wir zogen beschämt den Kopf zwischen die Schultern vor dem schrillen Gezwitscher derer, die es offenbar nie selber hatten versuchen müssen, jedenfalls nicht mit einer ganzen Klasse und auf Dauer. Einige wenige versuchten, dem Getschilpe gerecht zu werden – und scheiterten. Wir anderen erklärten die Forderung laut oder insgeheim für Quatsch. Wir sagten: Zwar sind einzelne unserer Kinder oft darauf angewiesen, dass wir ihnen auch in ihrem Lernen individuell beistehen, also individualisieren. Aber die es als „Kardinalprinzip” verlangen, erbauen sich entweder an der vergoldenden Wirkung ihrer Vergesslichkeit, oder ihre Kenntnisse erschöpfen sich in gelegentlicher Arbeit mit Kleingruppen. Heute wissen wir, dass es noch schlimmer war: Die das am lautesten forderten, waren  fachfremde Laien. Die hatten sich das ausgedacht.

Ich jedenfalls konnte es nicht, und ich kannte auch niemanden, der es konnte. Deshalb hatte Kollege Münch wie vor rund achtzig Jahren Recht, denn der oben zitierte Satz lautet weiter. „... und in der Praxis blieb alles beim alten.”

Aber das ist nur so, weil wir ganz selbstverständlich meinen, wir müssten wie gewohnt uns um alles selber kümmern und alles selber tun. Und das heißt zwangsläufig: Reden, reden, reden. Also reden wir – mit der ganzen Klasse, mit kleinen Gruppen und mit Einzelnen, und reden und reden. Dabei ist Individualisierung als „Kardinalprinzip” sehr wohl möglich, nur nicht als unsere Bringschuld. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich das begriff. Machbar kann umfassende Individualisierung nur sein, wenn die Kinder selbst sie leisten. Sobald wir, wann immer das möglich ist, uns zurückziehen und den Kindern Selbsttätigkeit mit eigenen Entscheidungen zugestehen, wird jedes auf seine nur ihm gemäße Art zu lernen lernen. Es wird die individuellen Lernmuster seines Gehirns zu nutzen lernen, sein Lerntempo einschlagen, nach seinen Bedürfnissen Partner wählen. (Und etwas t u n, statt dösend zuzuhören.)

Natürlich wird manches Kind dabei stolpern. Dafür ist dann unsereins da. Aber unter dem Schirm unserer Geschwätzigkeit straucheln sehr viel mehr Kinder.

Ich habe prüfende Unterrichtsbeobachter erlebt, die angesichts einer in Kleingruppen intensiv arbeitenden Klasse in Depressionen fielen, weil ihnen nicht geboten wurde, was sie beurteilen konnten: die didaktisch vorbildlich schwätzende Lehrerin. Die hatte ihre Hauptarbeit aber längst getan:  Lernvoraussetzungen organisiert und der Kinder Lernbedingungen arrangiert.

Manchmal kann man sich richtig ärgern zu lesen, was vor Generationen andere erkannt haben und was man einfach nicht zur Kenntnis nahm. So wie ich zum Beispiel Maria die Große:

„Wenn man bisher von individueller Entwicklung in der Schule sprach, stellte man sich immer einen Lehrer vor, der, anstatt eine ganze Klasse zu unterrichten, jedem einzelnen Kind sich widmete. Wenn das geschähe, würde das arme Kind ja noch geknechteter werden, als es in der früheren Schule war.“ (Maria Montessori 1923 in: Die Selbsterziehung des Kindes).

Signora: Salut!