Crashkurs Lesen & Schreiben (Lesenlernen ohne Fibel)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Dienstag, 15. Juni 2010 12:32
für Almuth Timm
...es ist doch gar nicht zu läugnen,
dass es bei den Lehrarten...
bei weitem mehr auf die Weisheit
und den guten Sinn und Willen
des Ausübers und Vollstreckers,
als auf den Grad der innern
Vollkommenheit der Lehr- und
Regierungs-Vorschriften ankommt.
Johann Heinrich Campe 1830
Anno 1965, als ich zum ersten Mal mit Erstklässlern Lesen lernte, saßen 42 Kinder der Jahrgänge eins bis vier in meinem Schulzimmer, unter diesen 16 Anfänger.
Mit Kurt Warwels Westermann-Fibel kam ich nicht zurecht. Mein Versuch, diese mit Artur Kerns Programm zu veredeln, scheiterte.
Ehe ich im Chaos versank, beendete ich auch dieses Experiment, arbeitete nach Gusto und machte somit aus meinem Leseunterricht vollends einen Gemischtwarenladen. Ich warf mich auf optische und akustische Analyse, malte Wort‐ und Buchstabenkarten für jedes Kind und beklebte sie mit Klarsichtfolie. Es wurde meine erste Eigenfibel.
Die Meinen brauchten ein Jahr, bis sie holpernd aber sinnerfassend lesen konnten. Eine so lange Dauer ist mir nie wieder passiert. Nach den Vorgaben der Obrigkeit hatte ich damals die Norm übererfüllt, denn erst „am Ende des zweiten Schuljahres“ sollten sie „einfache Texte ... lesen können.“
Wäre unsere Schule kindgemäß konstruiert und ausgestattet, hätte jedes Kind seine Zeit, seinen Weg zu finden, von uns begleitet, angeregt, herausgefordert und unterstützt, wie das vernünftigerweise sein müsste. Aber unser Problem ist das unsinnige Konstrukt der Jahrgangsklasse. Falls nämlich Paul zu Beginn des zweiten Jahres nicht einigermaßen flüssig und sinnerfassend lesen kann, hat er einen von zwei Wegen vor sich: Entweder führe ich pünktlich und unterschiedslos für alle gleich zu Anfang des zweiten Jahres das Lesebuch ein und beginne mit Textaufgaben und Arbeitsblättern... (Die Kolleginnen der Parallelklassen tun das schließlich auch, und deshalb erwarten es „meine Eltern“ von mir.) Dann wird Paul Tag für Tag gezwungen, eine Mischung aus Raten und Lesen zu lernen und gerät leicht – für mich unmerklich – auf den Weg zum funktionalen Analphabeten.
Der zweite mögliche Weg: Ich kümmere mich auch in Klasse 2 noch eine Zeitlang individuell um seine Grundlagen. So lange es um Paul allein geht, ist das machbar.
Wehe aber, wenn ich es nicht nur für ihn, sondern gleichzeitig für Pauline, Leo und Lea tun muss, die jeweils andere Hilfen verlangen! Dann rutscht mein Paul auch hier auf den Weg zum funktionalen Analphabeten.
In der Grundschule war ich später zehn Jahre lang Klassenlehrer zweier Klassen – keine unter 30. Weg 1 wollte ich nicht gehen. Weg 2 konnte ich nicht gehen, obwohl die Zahl meiner Ausländer an einer Hand abzuzählen war. Ich hätte es nicht mal gekonnt, würde ich nur eine Klasse gehabt haben.
Deshalb habe ich „Dampf gemacht“. Zum Halbjahreswechsel konnten alle Kinder meine einfachen Texte lesen, meist natürlich im Stottertempo – aber den Sinn entnehmend. In die Weihnachtsferien konnte ich ihnen einen Stapel selbstgeschriebener Texte zum häuslichen Training mitgeben. Meine kurzen Geschichten und Briefe handelten von ihnen selbst, vom vergangenen und von dem nach Neujahr bevorstehenden Schulalltag. An einen gravierenden Misserfolg kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.
Die Erfolge hatte ich, weil ich das Lesen- und Schreibenlernen ohne die üblichen Kompromisse betrieb und alles andere (wirklich: alles!) dafür zurückstellte: Erst lernen wir Lesen und Schreiben, d i e Kernkompetenz, Basis aller Schulleistungen. Meinetwegen nennt es Crash‐Kurs. Es sieht doch niemand, was unsereins hinter seiner Klassentür treibt!
Erst Jahre später listete ich die Crash‐ Grundsätze auf, denen ich ohne systematisches Planen folgte:
Erstens: Selber machen: Unsere Fibeln und Lehrgänge sind ein Behelf für Anfänger und Ängstliche. Es gibt keine Bestandteile in der Fibelsuppe, über die nicht jeder von uns verfügen könnte. Die Suppen sind sämtlich mit Wasser gekocht. Mit Wasser kochen aber können wir selber.
Zweitens: Unterrichtszeit sichern: Nehmen wir Religion und Sport aus, so standen drei bis vier „Stunden“ täglich zur Verfügung. Keine Minute davon gab ich ohne Not an einen Fachlehrer ab.
Drittens: Zeit frei gestalten: Auf meinen Stundenplänen standen nie Fachnamen, sondern die der Lehrenden. Und das war meist ich. Dann war ich in der Klasse und behandelte nicht die „Bäume im Herbst“, sondern tat, oft spontan, was gerade fürs Lesenlernen Lust versprach. Tag für Tag ging es immer wieder um Lesen und Schreiben, mal frontal, mal mit Partnern oder in Kleingruppen, mal zehn Minuten lang, mal zwanzig, mal eine Viertelstunde, stets im Wechsel mit Singen, Spielen, Erzählen und kleinen Auszeiten im Freien. (Erholung liegt im Wechsel, nicht in den Pausen!) „Mathe“ gab’s nur zur Abwechslung. Und sonnabends – damals hatten wir da noch Unterricht – hatte ich von elf bis halb zwölf Mütter und Väter im Klassenraum und erklärte ihnen die Hintergründe dessen, was sie bei den Lesefortschritten ihrer Kinder erlebten.
Viertens: Auf Vorgeplänkel verzichten: Da fast alle unsere Kinder unbedingt Lesen lernen wollen, verzögern Vorkurse mit dem Malen bedeutungsleerer Girlanden, Arkadenund Kringel den Lernbeginn.
Fünftens: Kein Zusatz‐Material: Zu meiner Zeit hatten die Verlage noch nicht entdeckt, wie nützlich möglichst viel Zusatz- und Ergänzungsmaterial ist. Das war gut für die Kinder. So hübsch viele der Ideen sind: Zuviel Material zieht die Lernprozesse in die Länge, bis bei manchen Kindern die Motive verdampft sind.
Sechstens: Lesen- und Schreibenlernen sind eins. Die Einheit zu trennen ist mehr als nur „dumm Tüüch“: Wer das als Lehrer versucht, betreibt sogar regelrecht Lernverhinderung. Man muss als Lehrer den Wechselspiel-Zusammenhang nicht verstehen, es genügt, in der Klasse die Augen offen zu halten: „Jeder Schüler, der es gelernt hat, die einzelnen Buchstaben zu schreiben, wird von einer Leidenschaft zum Schreiben ergriffen.“ Leo N. Tolstoj 1862.
Siebtens: Lesekönner sich selbst überlassen. Kinder, die meine Mitwirkung nicht mehr brauchen, werden aus dem Crash-Kurs entlassen. Sie können viel besser differenzieren als ich, indem sie sich zwischen den vielen Materialien tummeln - allein und/oder mit Partnern, mit und ohne Auftrag.
Achtens: Die Methode geringachten: Sie war mir grundsätzlich egal, wenn sie nur mir und den Kindern die Freude erhielt. (Diesen Satz habe ich gut überlegt. Er bleibt stehen.) Jedes Mal war mein Verfahren etwas anders. Nur die alte Ganzheitsmethode entstaubte ich nie wieder, und natürlich kam Schreibschrift nicht infrage. Meine Schrift war die Großantiqua, Steinschrift genannt. Dreizehn Kinderjahrgänge habe ich eingeschult, und mit jedem Kind habe ich bei der Anmeldung ein bisschen geplauscht und es verlockt, seinen Namen zu schreiben. Fast alle schrieben diese Schrift. Schlaue Leute bewiesen, dass die Kinder damit eine für sie ungeeignete Schrift wählten. Was ich dazu meine, schreibe ich hier lieber nicht, denn die Schlaumeier beherrschen immer noch den Markt. Ich will niemanden kränken.
Nicht ein besserer Lehrer war ich. Nur ein konsequenter „Ausüber und Vollstrecker“, der, wie der Teutschen Leselehrer Johann Heinrich Campe einst schrieb, an die „innere Vollkommenheit der Lehr‐ und Regierungs‐Vorschriften“ ebenso wenig glaubte wie an die von konfektionierten Lehrgängen. Mein Motto war: Erst lernen wir Lesen und Schreiben. Alles andere kriegen wir später.
PS: Solange ihr vor euch selber Angst habt, könnt ihr dieses Lehrerglück nicht erleben.