Pädagogisch lesen (Vorschriften kindgerecht umsetzen)

Es gibt überhaupt viel Sachen auf der Welt, 
was man nicht machen darf, aber machen kann. 
Hauptsache is, dass jeder probiert, 
obs ihm gelingt, und wenn ers nicht darf, ob ers kann.

Schwejk zu Jurajda, dem Koch (Band II)


Vor fast einem halben Jahrhundert war ich Lehrer der zweiklassigen Schule zu Tintrup im Lippischen. Zu den 42 Kindern meiner „Unterklasse“ gehörten 16 Erstklässler aus drei Dörfern. Ich hatte versucht, alle, unabhängig von ihrem Leistungsstand,  auf ihre eigenen Lernfortschritte im Lesen stolz zu machen. In jedem Heft der Warwelschen Westermann-Fibel hatte ich ihnen mit Schulsiegel bescheinigt: „... kann dieses Heft lesen.“ Nun sollten die Kleinen nach einem halben Jahr ihre ersten Zeugnisse erhalten. Die Vorschrift (Erlass KM/NW vom 15.2.1950) lautete:

„Auf den Schulzeugnissen aller Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen ... sind nur die folgenden Zensuren zu verwenden: 1 – sehr gut, 2 – gut, 3 – befriedigend, 4 – ausreichend,        5 – mangelhaft, 6 – ungenügend.“

Einige der Meinen waren wirklich schwach. Aber über die konnte ich nun doch nicht urteilen: „... hat einen ausreichenden Anfang gemacht“. Erst ihnen Mut machen bis zur Selbstverleugnung und dann ins Zeugnis schreiben: Ätsche-bätsche, war nicht so gemeint? Ich war sicher, diesen Kindern mit einer Zensur zu schaden.

Mein Schulrat in Detmold, der Kollege Hüttemann, war ein honoriger Pädagoge. Den rief ich an und fragte, ob ich das denn unbedingt tun müsste. „Leider ja“, antwortete er.

Mit dieser Aktion hatte ich mein Problem nur vergrößert. Ich war nun gezwungen, entweder zu tun, was ich für pädagogisch falsch hielt – oder gegen die Weisung meines Vorgesetzten zu handeln.

Selber Schuld. Warum hatte ich ihn überhaupt in Verlegenheit gebracht? Hatte ich etwa gehofft, ihn in mein Freibeuter-Boot zu holen und auf diese Weise mitverantwortlich zu machen für zweifelhaftes Tun? War er, wie vermutet, mein Gesinnungsgenosse, brauchte ich keine Absicherung. War er es nicht, konnte es mir nur Verdruss bringen, wenn ich ihn aufscheuchte.

Die Gemeinschaft hat Pädagogen berufen, das ihnen Bestmögliche für die ihnen anvertrauten Menschen zu tun. Was das jeweils Beste sei, können doch nur sie entscheiden! Was gibt’s da zu fragen?

Schon wahr: Als Beamte unterliegen wir der allgemeinen Gehorsamspflicht des Beamtenrechts. Aber unsere pädagogischen Pflichten erfordern Freiheits- und Beurteilungsspielräume. Dafür gibt es das Rechtsinstitut der Pädagogischen Freiheit. Zu fragen, ob man, bitte, seine Freiheit auch wahrnehmen dürfe, ist närrisch.

Für Zweifelsfälle gibt es Vorschriften. Die sollten wir erst mal lesen,  ehe wir Vorgesetzte belästigen. Diese Regulative, die ja in knapper Form eine Fülle von ähnlich gelagerten Fällen abdecken müssen, sind fast nie nach dem biblischen Grundsatz Ja, ja – Nein, nein formuliert. Dann wären sie total wirklichkeitsfremd, denn so geht es hienieden nicht zu. Deshalb müssen Erlasse und Verfügungen in der Praxis häufig für den jeweils konkreten Fall interpretiert werden. Da muss, wer seine Freiheit pflichtgemäß wahrnehmen will, das Reglement pädagogisch lesen können.

Damals in Tintrup konnte ich das noch nicht. Ich las: „... sind nur die folgenden Zensuren zu verwenden...“ Das verstand ich ganz naiv zu Ungunsten der Kinder. Trotzdem überwand ich die Angst, nannte in meinen Zeugnistexten entgegen Herrn Hüttemanns Urteil keine Zensuren und meinte, etwas Verbotenes getan zu haben.

Den oben zitierten Erlass hätte ich aber auch pädagogisch lesen können: Das Verlangen, „nur die folgenden Zensuren“ zu verwenden, bedeutet: Wenn zensiert wird, dann nur mit diesen Notenstufen. Und das leuchtet auch ein. Es kann schließlich nicht jeder seine private Notenskala anwenden.

Aber ich zensiere ja gar nicht. Ich schreibe nur eine pädagogisch hoffentlich wirksame Ermutigung für Schulanfänger. Dass nach einem halben Jahr überhaupt zensiert werden müsse, steht da nicht. Das steht nirgends. Ein Zeugnis ist fällig, ja. Und das schreibe ich. Nur wenn ich darin auch zensieren wollte, müsste ich die Noten nehmen.

So war das nicht gemeint? Aber so verstehe ich den Erlass, wenn ich ihn auf meinen bestimmten Fall anwenden will. Höchstens in Reizluft könnte ein gewisses schwejksches Blinzeln damit verbunden sein.

Das Problem ist damit vom Tisch – außer, wenn ich nun mit meiner Interpretation hausieren ginge oder sie sonst ruchbar würde. Andere können schon mal anders interpretieren. Vorgesetzte, von begrenzter Einsicht, Unbeweglichkeit, ängstlich oder von ihrer Macht geblendet,  könnten uns auch anweisen, ihrer Interpretation zu folgen. In beiden Fällen droht Nervenverschleiß, und davon hat unsereins in seinem Beruf ohnehin so viel, dass er zusätzlichen unbedingt vermeiden sollte. Also lautet das Motto: Suche der Kinder Bestes und quatsch nicht!