Kolleginnen und Kollegen im Ellend ("Fachfremdes" Unterrichten)

(Ich habe) „von Kolleginnen gehört... 
dass sie an der Grundschule, 
1. und 2. Klasse, 
alles (!) unterrichten müssen: 
Rechnen, Schreiben....  
Ich persönlich finde das skandalös.“

(Kollegin tabsi 2009 im Internet)


Zu meiner Zeit war „fachfremd“ ein oft benutztes Wort in unserer Schule. War es nicht anklagend gemeint, so wurde es doch mit gehörigem Selbstmitleid gebraucht.

Was heißt das eigentlich: fachfremd?

Lasst uns das mal mit Hilfe der Etymologie etwas genauer untersuchen.

Erste Frage: Was ist ein Fach?

Im Althochdeutschen war fah ein vom Ganzen abgeteilter Raum und bedeutete die „Einschränkung auf ein begrenztes Gebiet“. (Trübners Deutsches Wörterbuch)

Nachfrage: Und was ist ein Ganzes, wovon das Fach abgeteilt ist? Das Wort sei zwar dunklen Ursprungs, sagt uns der Duden, aber seine alte Bedeutung sei sicherlich: unversehrt und vollständig.

Zeit für eine erste Lernkontrolle: Was haben wir bis hierhin gelernt? Antwort: Wer in seinem Fach lebt, ist versehrt und nicht vollständig und leidet an einer gewissen Beschränktheit.

Zweite Frage: Was ist fremd?

Fremethe sagten die Friesen, fremethi die alten Sachsen. Der Fremde war bei unseren Vorfahren fram, und das meinte: fern seiner Heimat.
Als der Nibelungen-Recke Hildebrand in der Fremde lebte, war das für den Dichter schlicht  elilenti, und das Verb für In der Fremde leben hieß ellenden.

Nachfrage: Was war denn so dolle an der Heimat, dass ihr Verlust mit „Elend“ gleichgesetzt wurde? 
Trübners Wörterbuch weiß es: Das Wort ist von Heim abgeleitet, und heims bedeutete z. B. im Gotischen das Herkunfts-Dorf. Denkt man an die überwältigende Ärmlichkeit germanischer Siedlungen, kann man also, etwas salopp, sagen: Heimat ist das eigene Kaff.

Zweite Lernkontrolle! Nun haben wir gelernt:  Der Mensch mag in der eigenen Klitsche noch so bescheiden hausen, versehrt und beschädigt: In der Fremde ist es um nichts besser, sondern noch viel schlimmer: einfach ellendig!

Nunmehr können wir im Lichte unserer etymologischen Forschungen zusammenfassen, was der Klagechor unter „fachfremd“ in der Schule zu verstehen hat: Wer außerhalb seines Fachs unterrichtet, ist beschränkt und beschädigt und ellendet kümmerlich vor sich hin.

Dritte Frage: Was ist eigentlich mit den Kindern, die ja Empfänger solcher Ellendigkeit sind?

Niemals hat es zu unserem Thema einen Befund gegeben, dessen empirische Basis auch nur entfernt mit dem Datengebirge der  britischen Langzeituntersuchung National Child Development Study verglichen werden könnte. Die Erhebung lief von 1958 bis 1991. 
Herausragendes Ergebnis: D a s Grundbedürfnis des Kindes ist emotionales Wohlbefinden. Auf diesem Humus wächst auch erfolgreiches Lernen.

Dritte Lernkontrolle! Wir haben gelernt: Den Kindern ist Fachfremdheit egal, wenn sie nur emotionales Wohlbefinden erleben. Sie haben nichts gegen Fachlehrer. Sie verkümmern nur bei fehlender Geborgenheit.

Liebe Kollegin tabsi: Sollten Sie Lehrerin in der Hoffnung geworden sein, Fächer zu unterrichten und auf diese Weise der Ellendigkeit zu entgehen, so haben Sie den falschen Beruf. Korrekt im Sinne Ihrer Fachlichkeit mag dann Ihr Unterricht sein, vielleicht sogar brillant. Aber Ihre ganze fachliche Brillanz taugt nicht, wenn sie nicht den Adressaten gerecht wird. Zuerst hat Ihre Arbeit kindgerecht zu sein!

Gesetzt, Sie arbeiteten mit schockierenden fachlichen Defiziten, befriedigten aber möglichst oft das Grundbedürfnis der Kinder, dann lernten die bei Ihnen viel mehr als bei einer fachlichen Koryphäe, die ihnen emotional nicht gerecht wird. Und wenn sich alle pädagogischen Aliens an den Hochschulen auf den Kopf stellen: So isset!

Zu meiner Zeit dachten sich theoretisierende Laien das „gemäßigte Klassenlehrerprinzip“ mit zwei Dritteln Fachlehrerstunden schon für die Kleinen aus, auf dass der Unterricht der Ausbildung entspreche und die Würmchen beizeiten an die Fachlichkeit von Wissenschaft gewöhnt würden.

Aber ohne Wohlbefinden wird nicht gut gelernt. Gelehrt auch nicht. Liebe Kollegin, nach wenigen Jahren Berufspraxis werden Sie erfahren, wie wichtig das auch für Sie selbst ist: die Geborgenheit in Ihrer Lerngruppe. Nicht nur das Wohlbefinden Ihrer Schüler, sondern auch Ihr eigenes hängt weit gehend von den menschlichen Beziehungen in Ihrer Schule und jeweiligen Klasse ab.

Deshalb haben zu meiner Zeit viele von uns sich „fachfremde“ Stunden in ihrer Klasse gesichert, dann die Klassentüren zugemacht und die Vorschriften missachtet: nicht ihre zwei Fächer gelehrt, sondern Kinder zum Lernen verlockt und ihnen beim Lernen geholfen. So viel „fachfremd“ gearbeitet wie nur möglich – Hauptsache, wir waren mit „unseren“ zusammen. Unversehens lernten wir dabei unser Hauptfach, das zu studieren uns in der Ausbildung weit gehend verwehrt worden war:  das Kind. Das, scheint mir, ist angesichts der immer „schwieriger“ gewordenen Kinder unserer Zeit noch mehr als zu meiner Zeit nötig.

Wer das nicht kann, bleibt  in seinem Fach beschränkt und beschädigt, kümmert ellendig vor sich hin und wird in Bälde ein Kandidat für den Amtsarzt.

Sie auch.

PS: Gedenkt unserer Brüder und Schwester in Bayern. Sie haben’s schwer.