Zeitraub (Unser Umgang mit Zeit)

Und keiner kennt den letzten Akt
von allen, die da spielen.
Nur der da droben schlägt den Takt,
weiß, wo das hin will zielen.

Joseph von Eichendorff


"Der da droben" schlägt den Takt? Aber nur da oben! Hienieden gilt anderes Maß!

Als Gott dem Menschen die Zeit anvertraute, gab es noch keine Schule. Sonst hätte er sich das wohl anders überlegt.

Gedacht hatte er sich das so, dass jedes Geschöpf sein Quantum Zeit und seinen individuellen Takt erhält und dann zusehen darf, wie es damit zurechtkommt. 

Wenn aber ein Kind in unsere Schule eintritt, erlebt es als erstes, dass die ihm sein Quantum Zeit samt Takt wegnimmt. Schule bildet sich ein, besser mit den individuellen Portionen der Kinder umgehen zu können. Zu diesem Zweck sozialisiert sie die Zeit. Allen wird das gleiche Maß zugewiesen.

Die den Kindern weggenommenen Zeiten sind beim Zeitverwalter der Schule abzugeben. Der verteilt sie nach den Vorschriften der Oberzeitverwalter im „Stundenplan”. In großen Schulen braucht er dafür einen Computer.

Die Frage, wie viel Zeit für Deutsch, wie viel für Biologie und Mathematik und wie viel für Religion einzuplanen sei, haben die Oberzeitverwalter nach kontrolliertem Gutdünken festgelegt; kontrolliert, weil die betroffenen Germanisten, Biologen, Mathematiker und Kirchen mitgefeilscht haben.

Nur eine Stunde Biologie pro Woche'? Das mindert die Reputation derer, die Biologie und Didaktik der Biologie lehren! Denkschriften werden gedrechselt, Landtagsabgeordnete aufgescheucht. Wer gar dem Religionsunterricht an die Minuten geht, dem springen die Kirchen ins Gesicht. Herr, erbarme dich!

Hat der Stundenplanmacher die Zeit portioniert, ist es der Lehrer Sache, die weiteren Vorschriften der Oberzeitverwalter durchzusetzen. Der Bedarf für die Zehnerüberschreitung wird auf sechs Monate festgesetzt, für Bismarck gibt es sechs Wochen, Herr Pythagoras muss mit fünf Stunden zufrieden sein, und für die Körnerfresser bleibt weniger als ein Stündchen übrig. Wer sich wohl so was ausdenkt? Und was findet dabei zwischen den Ohren statt?

Dass innere Lernuhren unterschiedlich schlagen, interessiert nicht, bei uns herrscht Gerechtigkeit: Der Takt hat für alle gleich zu sein.

So lernte das zu meiner Zeit auch die Lehrerin für ihre Unterrichts-„Stunden". Fünf Minuten Motivation. Die Zeit muss man sich nehmen. Da werden die inneren Lernuhren der Kinder aufgezogen und auf Null gestellt. Fünf Minuten Problemstellung, tick, tick, fünf für naive Lösungsversuche, tick, tack, fünf für Problematisierung, ticketack, fünfzehn für partnerschaftliche Erarbeitung, fünfzehn fürs Unterrichtsgespräch, ticketacketicketacketick, die Pausenschelle schrillt. Ach du liebe Zeit! Hausaufgaben vergessen!

Die Prüfer blicken einander an, Ihre Blicke sagen: Sie ist mit der Zeit nicht ausgekommen!

Zu meiner Zeit gab es Pluspunkte für Lehrer, die Stoffe so stauchten oder streckten, dass, wenn das Klingelzeichen ertönte, das letzte Wort zu den Hausaufgaben im Klassenzimmer noch nachhallte — und Minuspunkte, wenn's nicht gelang. Gelehrt wurde nicht nach dem Vermögen der Köpfe, sondern nach der Pausenschelle. Was scherten uns die Kinderköpfe!

Bei Klassenarbeiten war – so die Vorschrift - von einem „mittleren Arbeitstempo” auszugehen. Diese Vorschrift machte bewusst und gezielt die Langsamen platt. Bewusst und gezielt. Die Schnellen galten als die Guten. Die Langsamen aber waren die Dummen. Oder sollten die „Dummen” in Wahrheit nur die Langsamen gewesen sein? Na bitte, wenn sie Zeit brauchten, die konnten sie haben: Ein Jahr da capo!

Ebenfalls zu meiner Zeit aber leiteten Lehrerinnen und Lehrer besonders der Grundschule auch eine Umkehr ein. Die Schulglocke ließen sie nur noch zu den Hofpausen läuten, „gleitender Unterrichtsanfang“ griff um sich. Vor allem aber nahmen sie sich das Klassenlehrerprinzip, das in den Vorschriften für unwissenschaftlich galt. Hatten sie genügend viele „Fächer“ unter ihrer Obhut, schrieben sie in den Stundenplan nicht die Namen dieser „Fächer“, sondern ihren eigenen. Nun konnten sie den Wecker abstellen (und sich selbst in ihre Lerngruppe integrieren).

Sie wussten: Für alle den gleichen Takt zu schlagen, gehört an Dirigentenpulte und auf Galeeren. Für die Köpfe aber gilt der Takt, den der da oben vorgegeben hat.

Zu meiner Zeit war allerdings Ungehorsam gegen die Zeitrauber leichter möglich als heute, da die Obrigkeit wähnt, Lernleistungen von Kindern würden nicht verbessert, indem man ihre unterschiedlichen Lerntakte beachtet, sondern indem man ihre Lehrer unter Druck setzt.

6. Mai 2007