Von der pädagogischen Tür-zu-Vernunft (Ungehorsam um der Kinder willen)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Sonntag, 08. November 2009 11:19
Oberste Dienstpflicht des Lehrers ist,
zum Wohle von Kindern zu arbeiten.
Hat der Lehrer das in diesem Falle getan?
Wenn ja, dann hat er Recht.
(Der Jurist eines Kultusministeriums anlässlich eines Streitfalls – zu meiner Zeit)
... Als ich Schulrat war, rief mich ein Kollege aus meinem ehemaligen Dienstort an. Damals verlangte die Stundentafel, dass in der Regel der Klassenlehrer ein Drittel der Stunden haben sollte. Das sogenannte gemäßigte Klassenlehrersystem. Ein Drittel Klassenlehrerzeit auch im ersten Schuljahr! Eine Schande vor Gott und Pestalozzi. Der Kollege hatte, wie er das für vernünftig hielt, unser schönes Klassenlehrersystem behalten und die bunten Klötzchen für sein erstes Schuljahr ganz ehrlich gesteckt. Da kam der Schulrat, mein alter Freund, sah die bunten Klötzchen und verlangte Änderung. Mein Kollege sagte, das kann ich nicht tun, ich schädige meine Kinder damit. Er wurde dienstlich angewiesen. Tat’s immer noch nicht. Daraufhin meldete sich der Düsseldorfer Dezernent an. Ich habe meinem Kollegen gesagt: „Du hättest gar nicht erst auf Konfrontation gehen dürfen! Aber du kannst immer noch zurück. Sag ihm, ja Herr Schulrat, ich sehe es ein, Herr Schulrat, steckst die Klötzchen, wie er es will und arbeitest weiter, wie du es willst. Was du hinter deiner Klassentür treibst, kann er doch gar nicht wissen!“ Jeder darf sich nur soviel Konfrontation zumuten, wie seine Leidensfähigkeit es zulässt. ...
Nehmen Sie die Stundentafel, die ja ein Ausfluss des pädagogischen Teufels ist. ... Da war mal eine neue herausgekommen, und ‚unser’ Ministerialrat hatte es geschafft, eine kleine Fußnote da reinzuschmuggeln, wörtlich: „Die Möglichkeiten fächerübergreifender Unterrichtsgestaltung sind zu nutzen. Ich hab’s oft zitiert, darum kenne ich es heute noch auswendig. ... Da gibt es also dieses Türchen, das in Wahrheit ein Scheunentor ist. Aber die Masse unserer Angsthasen exekutieren diese Stundentafel, statt zu sagen, wenn ich die Klassentür zumache, bin ich alleine zuständig. Sollte mir jemand, was höchst unwahrscheinlich ist, Fehlverhalten vorwerfen, antworte ich, ich habe weisungsgemäß eine Möglichkeit fächerübergreifender Unterrichtsgestaltung genutzt.
In meinen letzten Jahren in der Grundschule habe ich mich morgens mit meinen Kindern an den Tageslichtprojektor gesetzt, und wir haben gemeinsam das Tagesprogramm festgelegt, und fortan konnte jedes Kind in der Klasse das Gefühl haben, was heute passiert, das will auch ich, das haben wir gemeinsam beschlossen. Dass ich mein Lehrerinteresse da unterjubelte, ist klar. Ich versteh nicht, wie erwachsene Menschen sich dem Diktat dieser ausgefeilschten törichten Tabelle unterwerfen können, wenn sie’s nicht müssen. Macht doch die Tür zu, es sieht doch keiner, ob ihr die Minuten zählt! Messt euch daran, was eure Kinder gelernt haben, nicht daran, wie gut ihr die Tabelle an ihnen vollstreckt habt!
Ich erinnere mich lebhaft, wie ganze Regionen in NRW ohne Lärm den Gehorsam verweigert haben. Die haben’s einfach nicht gemacht. Als ich junger Lehrer war, standen 7 Stunden Deutsch gegen 3 Stunden Religion. Die Relation war schon – mit Verlaub! – dummes Zeug. Dann kam die Schulreform der siebziger Jahre, da wurden diese 7 Stunden Deutsch auf 4 reduziert auf einen Schlag! Dem Religionsunterricht wurde auch ein Stündchen weggenommen. Und damit auch kein Lehrer der Kleinen auf dumme Gedanken kam, stand darunter als Fußnote Nummer 1: Diese Zahl gilt auch für den gesamten Lese- und Schreibunterricht in den Klassen 1 und 2.
Das müssen Sie sich mal vorstellen: Vier mal 45 Minuten für das Lesen- und Schreibenlernen samt allen anderen Aufgaben im Sprachunterricht des ersten Schuljahres! Ein Programm amtlich angeordneter Kinderschädigung. Ausgeheckt hatte das eine Phalanx von Wissenschaftlern im Verein mit ein paar willfährigen Praktikern. Also wer dem gehorcht hat, der hat Kinder massiv und wissentlich geschädigt, der war nicht besser als einer, der auf Befehl an einer Exekution teilnimmt. Der war sogar schlimmer, denn er hätte ohne Mühe das tun können, was Kindern nützt: Tür zu und dem eigenen Sachverstand samt Gewissen gehorcht!
Damals fielen in ganzen Regionen von NRW die pädagogisch tonangebenden Schulen ab, zogen immer mehr auf ihre Seite und leiteten eine Schulreform von unten ein. Es gab in der Grundschule eine regelrechte Aufbruchstimmung. Es gab praktisch keinen offenen Widerstand der Freundinnen und Freunde. Es gab nur die pädagogische Tür-zu-Vernunft. Darauf reagierte das Ministerium. ...
Natürlich braucht man oft List. Man kann das ja nicht immer so deutlich sagen: Wenn in einer Klasse 29 Kinder sind und ab 30 darf geteilt werden, habe ich mal geschrieben, dann wird sich doch noch ein dreißigstes finden lassen! Also, den Rest muss sich dann jeder selber ausdenken. Diese Statistiken sind ja auf einen Stichtag ausgerichtet. Und Schülerzahlen haben das nun mal so an sich, dass sie von einem Tag auf den anderen sich ändern, das eine Kind tritt auf meine Veranlassung zurück, das andere weise ich probeweise einer anderen Klasse zu, wieder ein anderes ist weggezogen und ist noch nicht förmlich abgemeldet.
Ich war nicht mutiger als andere, ich war nur weniger feige. Und immer, wenn ich was Zweifelhaftes oder Verbotenes tat, habe ich mir überlegt, was sage ich, wenn ich erwischt werde? Das ist ganz wichtig, den Rückweg muss man sich vorher gepflastert haben. Aber dass da tatsächlich jemand sehenden Auges 29 Kinder in eine Klasse packt, weil er erst ab dreißig teilen darf und er kein dreißigstes findet, das kann ich überhaupt nicht verstehen. Wenn er Pech hat, wird am Tag nach dem Stichtag das 30. angemeldet, und dann jammert er über die Rahmenbedingungen. ...
Über 45 Minuten brauchen wir nicht zu reden. Wer in Portionen von 45 Minuten arbeitet ohne Rücksicht auf die, die da lernen müssen, der ist ein Narr. Außer den armen Menschen, die mit ihrem Fach die Zeit portionieren müssen. Aber selbst die haben’s selbst in der Hand. Anfang der achtziger Jahre hat „meine“ Wittener Hauptschule Bommerfeld mit dem Kollegen Hake per Konferenzbeschluss das strenge Fachlehrersystem gelockert, und alle Kolleginnen und Kollegen haben so viel wie möglich „fachfremd“ unterrichtet, damit sie täglich länger mit ihren Kindern zusammenwaren. Die tägliche Arbeit war den Bommerfeldern einfach zu schwierig geworden. Warum? Es waren wieder mal die menschlichen Beziehungen. Wer mittwochs in der dritten Stunde Wirtschaftslehre in Klasse 7 hat und dann wieder freitags in der sechsten, kann die menschlichen Beziehungen zu seinen Schülern vergessen. Der kämpft in dieser Klasse ums Überleben. ...
(Auszug aus dem Interview, das Reinhard Stähling und Barbara Wenders mit mir führten; in: Ungehorsam im Schuldienst, Schneider Verlag Hohengehren 2009)
Im Übrigen: Gedenket unserer Brüder und Schwestern in Bayern. Sie haben’s schwer.