Der bayerische Grundschul-Milgram (Kinder auf Anordnung schädigen?)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Sonntag, 04. Oktober 2009 12:10
„Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen,
einer Autorität fast beliebig weit zu folgen,
ist ... eine Tatsache,
die dringendst der Erklärung bedarf.."
Stanley Milgram: The Perils of Obedience, 1974
Eine der Folgen des gegliederten Schulwesens ist die frühzeitige Kindersortierung in die verschiedenen Schulformen. Im Freistaat Bayern geschieht das mit Hilfe von Hundertstelnoten: „Bis zu einem Notendurchschnitt von 2,33 erhält der Schüler eine Schullaufbahnempfehlung für das Gymnasium, bis zu 2,66 für die Realschule und ab 3,0 für die Hauptschule.“1
Diese Idee soll hier nicht kommentiert werden.2
Reden wir ausnahmsweise auch nicht von den Kindern, sondern von Lehrerinnen und Lehrern. Die haben in Bayern Kinder nicht nur zu fördern, sondern auch zu sortieren. Das aber nicht einfach nur nach den Leistungen.
Zu viele Empfehlungen fürs Gymnasium sind zu vermeiden, zu wenige für die Hauptschule ebenfalls. Weil aber beide von den vorgegebenen Notenschnitten abhängen, muss sich da jede Lehrerin etwas einfallen lassen.
Aber nicht jede für sich. Denn wehe, wenn es in der 4A fünfzehn Empfehlungen fürs Gymnasium gibt, in Klasse 4B nur neun und in der 4C gar nur drei! Dann gibt es Elternstürme, und was im Kollegium los ist, kann jeder sich ausmalen. Aufstand der Eltern plus kollegiale Verwerfungen = Schulfriede und Lebensfreude perdu. Deshalb sah jener Schulrat, vor dessen Schreibtisch einmal die Protestwogen aufbrandeten, allen Grund für seine Forderung: "Sie haben sich an das Niveau der Parallelkollegen anzupassen!" Vulgo: Es ist Ihre Pflicht, die Noten der Kinder passend hinzupfriemeln. Dass Sie im Diensteid geschworen haben, Gerechtigkeit zu üben, dürfen Sie nicht so eng sehen.
Mit Vehemenz bestreitet die Aufsicht, Notenschnitte in Parallelklassen würden vorgegeben. Natürlich nicht. Wenn eine Lehrerin konsequent ihrem pädagogischen Gewissen folgt und damit auffällt, genügt es, sie zu maßregeln. Das spricht sich in Windeseile rum. Die weitaus meisten Kolleginnen und Kollegen werden sich dann anpassen, und die Obrigkeit kann sich Hände waschend entrüsten: Notenschnitte vorgeben? Aber wir doch nicht!
Vielleicht ist dies das Schlimmste: Pädagoginnen unausgesprochen zu veranlassen, Kindern zu schaden. Sind die etwa allesamt unmoralische Kinderschädiger, die Kinderleistungen passend zurechtstutzen, damit Schulfriede und Lebensfreude erhalten bleiben?
Vielleicht kann ein legendäres Experiment aus dem Jahre 1961 Erkenntnisse liefern. Damals führte Stanley Milgram vor, wie leicht du und ich nicht nur zu gehorsamen Erfüllungsgehilfen, sondern sogar zu Folterknechten gemacht werden können. Die meisten seiner Versuchspersonen waren ohne weiteres bereit, als „Lehrer“ einen „Schüler“ im Nebenraum mit vermeintlichen Elektroschocks zu bestrafen, um besseres Lernen zu erzielen.
Für unseren Zweck werden im Folgenden die Versuchspersonen in der Lehrerrolle kurz ‚Lehrer’ und der Veranstalter des Versuchs, vorgeblich ein UNI-Mensch, ‚Vorgesetzter’ genannt.
Fast alle Angesprochenen beteiligten sich an dem Experiment. Freiwillig. Es begann ganz harmlos. Aber nach und nach stiegen die virtuellen Stromstöße, und der ‚Schüler’ im Nebenzimmer ächzte und stöhnte, und schließlich schrie er, wenn der ‚Lehrer’ nicht weiteres Mitmachen verweigerte.
Wie hat der ‚Vorgesetzte’ die ‚Lehrer’ zum Mitmachen bewogen, wenn die nicht mehr wollten? Das ist als Teil des Experiments exakt dokumentiert. Die folgenden Zitate stammen aus Wikipedia3.
Bitte fahren Sie fort!
Bitte machen Sie weiter!
Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!
Sie müssen unbedingt weitermachen!
Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!
Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen!
Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen, (der Schüler) wird keinen dauerhaften Schaden davontragen, also machen Sie bitte weiter!
Ich übernehme die Verantwortung für alles, was passiert. –
Die allermeisten ‚Lehrer’ gehorchten anfangs und haben sich „an den Anweisungen des Versuchsleiters und nicht am Schmerz der Opfer“ orientiert.
Aber wie fühlten sie sich dabei?
„Alle Lehrer zeigten einen aufgewühlten Gemütszustand.“
„Alle Lehrer hatten Gewissenskonflikte.“
„Einige Lehrer bestritten, dass das Opfer tatsächlich schmerzhafte Schocks erhielt.“
„Viele leugneten einfach ihre Verantwortlichkeit.“
„Einige versuchten Spannungen zu reduzieren, indem sie zwar gehorchten, jedoch versuchten, die Schmerzen für das Opfer so gering wie möglich zu halten, indem sie den Schockgenerator nur kurz antippten oder indem sie dem Schüler die richtige Antwort durch überdeutliches Sprechen zu verraten suchten.“
Die von Milgram angeworbenen ‚Lehrer’ hätten ohne weiteres sagen können: Ich will nicht. Dann wären sie zum Kaffeetrinken nach Hause gegangen und hätten die Sache vergessen. Die allermeisten machten trotzdem erst mal mit.
Beamte aber haben eine Gehorsamspflicht und sind in ein rigides Korsett eingebunden. Wieviel mehr Fügsamkeit muss es bei unsereinem geben! Milgram: „Insbesondere wenn die Autorität in einen bürokratischen Prozess eingebunden ist, der das Delegieren der Verantwortung auf eine Institution ermöglicht, steigt die Chance auf Gehorsam selbst bei Befehlen, die als unmoralisch empfunden werden.“
Die bayerische Administration pflegt ihr Korsett notorisch konsequent.4 Wenn eine Lehrerin das verlangte Spiel nicht mitspielt, wird sie erst kollegial ermahnt, dann „einbestellt“, kriegt eine schlechte Beurteilung, einen Schrieb in die Personalakte, wird „zur Wahrung gleichmäßiger Lehrerversorgung“ oder ganz unverhüllt wegen Ruins des Schulfriedens versetzt und gar zum Amtsarzt geschickt. (Kann eine wie Sabine Czerny noch „ganz dicht“ sein? Vielleicht muss man die - Fürsorge, Fürsorge! - in den vorzeitigen Ruhestand schicken?) Auch jene Leute, welche die Instrumente der Waffenkammer bayuwarischer Schulverwaltung gegen Lehrer einsetzen, gehorchen ja dem „Milgram-Gesetz“ - nur müssen viele von denen zum Weitermachen nicht erst aufgefordert werden. Deren Arsenal verhält sich zu Milgrams Zureden wie eine Spielzeugpistole zu einem Granatwerfer.5
Ursprünglich sollte das Experiment die Frage beantworten, ob die Verbrechen der NS-Zeit auch deshalb zustande kamen, weil die Deutschen einen obrigkeitshörigen Charakter haben. Bis in die jüngere Gegenwart erbrachten alle Varianten der Untersuchung auch für andere Kulturen: Da gibt’s nichts spezifisch Deutsches. Wir Menschen sind nun mal so. Fast alle. Nur die Grenzen, jenseits derer wir uns verweigern, sind unterschiedlich.
Ich aber danke meinem Schicksal, dass ich in NRW arbeitete und mir die Heimsuchung erspart blieb, meine Ideale gegen die Vorschriften bayerischer Kinderverwalter behaupten zu müssen. Diese pädagogischen barbari hätten mich „geschafft“- so oder so.
Damit ich mir überhaupt noch das Recht herausnehmen kann, aus meiner vergleichsweise idyllischen Zeit zu berichten, werde ich in Zukunft immer wieder mal daran erinnern:
Gedenket unserer Brüder und Schwestern in Bayern! Sie haben’s schwer.
1 Bayern: Kabinettsbeschluss vom 3.März 2009
2 Bei wortschatz.uni-leipzig.de findet sich unter grotesk und töricht ein großes Angebot treffender Adjektive.
3 de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment.
Weitere Quellen: www.spiegel.de/schulspiegel/wissen,
Spiegel-online (22.8.2009), www.adz-netzwerk.de, Süddeutsche Zeitung, u.a.: www.sueddeutsche.de/thema
4 Wenn ein pädagogischer Horror juristisch wasserdicht gemacht wurde, ist das sogenannte Remonstrationsrecht nur Beamten-Folklore.
5 In einer Erweiterung des Experiments hat Milgram später gezeigt, was ein Gewerkschafter sofort versteht: Der Anteil der bedingungslos gehorchenden Probanden nimmt schon dann drastisch ab (auf 10 %), wenn sie auch nur zwei weitere Lehrer an ihrer Seite haben und diese dem Versuchsleiter Widerstand entgegensetzen. (Milgram 1965)