Heinz-Jürgen, Artur u.a. (Lehrers Verhaltensänderung)

„Die Veränderung, 
die ihr in der Welt sehen wollt, 
die müsst ihr sein."

Mahatma Gandhi


Vergessen hatte ich Heinz-Jürgen nie. Aber nur sein Schicksal war mir bewusst. Ein Bild von ihm, einen Eindruck hatte ich nicht mehr. Als er mir nach Jahrzehnten – ich war längst im Ruhestand - in einem alten Sparkassenbüchlein wiederbegegnete,  sah ich ihn plötzlich. Da habe ich das Büchlein zusammen mit allen anderen vernichtet. Irgendwann muss Schluss sein mit lästigen oder gar quälenden Erinnerungen. Das Umgehen mit Problemen, habe ich auf vielen Veranstaltungen gesagt, ist im Gehalt enthalten. Aber doch nicht in der Pension!

Heinz Jürgen war mein Schüler in Klasse 4, und es war mein zweites Lehr(er)jahr. Eines Tages erdrosselte er sich mit einer sinnreichen Konstruktion am Kleiderschrank seiner Eltern. Meine Kollegen begegneten mir mit scheuen Seitenblicken und bekundeten Mitgefühl, die Kripo beruhigte mich, ich hätte nichts damit zu tun, die schrecklichen Verhältnisse im Elternhaus seien die Ursache. So was glaubt man als Lehrer gern, und ich half, auf den kleinen weißen Sarg ein paar Schäufelchen Erde zu werfen. Die Erinnerung an Heinz Jürgen blieb, aber sein Bild wurde blass und versank im Alltag mit 49 Kindern in meiner Kombination 4/5.

Und dann, ein halbes Jahrhundert später, fand ich beim Aufräumen die Sparkassenbüchlein, die uns einst als Lehrerkalender gedient hatten, und ich sah die Zahlenkolonne seiner Noten hinter seinem Namen: 5, 5, 6, 5, 6 ... Da war er wieder da. Die Erkenntnis überfiel mich geradezu: Wäre es mir gelungen, Schule so zu gestalten, dass Heinz-Jürgen morgens in freudiger Erwartung vor sich hin gepfiffen hätte, könnte er noch leben. Wer morgens fröhlich pfeifend sein Tagewerk beginnt, bringt sich nicht mittags um.

Heinz Jürgen wird mein Gefährte bleiben. Nicht oft, aber doch immer wieder mal. Unterschwellig war er es gewiss in all den Jahrzehnten.

Kürzlich fragten mich Kollegen, wie es komme, dass ich so radikal-kompromisslos und – wie könnte ich es leugnen? – undiplomatisch und streitbar zu vertreten versucht habe, was ich für die Interessen von Kindern hielt. Dass ich so heftig gegen Kinderverwalter aller Art war und bin. 
Mir fiel als Antwort auch das rote Sparkassenbüchlein wieder ein, und ich dachte: Hat da vielleicht unbewusst die frühe Erfahrung mit Heinz-Jürgen eine Rolle gespielt? Ich weiß es nicht. Mit Gewissheit erinnere ich mich nur, auch in den nächsten Jahren Schule nach dem Lustprinzip veranstaltet zu haben – meiner Lust entsprechend.

Nach und nach müssen sich in meinem Kopf mehrere Erlebnisse angesammelt haben, die jedes für sich wenig bewirkten. Aber eines Tages kam ein weiteres hinzu, und das hat wohl zusammen mit den angesammelten eine Reaktion der pädagogischen Chemie ausgelöst. 
Ich erinnere mich genau. Nach dem Jahr mit meiner Kombination 4/5 und sechs weiteren in der Volksschul-Oberstufe (die Hauptschule war noch nicht erfunden) kam ich als Erster Lehrer an die zweiklassige Dorfschule zu Tintrup im Lippischen und musste, weil Lore Althoff die Oberklasse hatte und dort auch ihre Zweite Prüfung machen wollte, die Unterklasse mit den Jahrgängen eins bis vier übernehmen. Für eine solche Aufgabe war ich gänzlich unvorbereitet. Ich begann zu lesen. Und ich las einen Satz, an dem genau ich meine pädagogische Umkehr festmachen kann.

In meiner radikal-gläubigen Sippe rühmten sich viele Vorfahren, Zeit und Ort ihrer Bekehrung exakt bestimmen zu können. Ich will die Toten für ihre Erzählungen nicht schmähen. Aber ich jedenfalls kann meine pädagogische Bekehrung tatsächlich genau bestimmen. 
Es war der Sommer 1965. Da las ich bei Artur Kern:  „Stelle deine Anforderungen im Rechtschreiben so, dass möglichst keine Fehler gemacht werden.“  Das verstand ich so: Verlange nichts von Kindern, was sie nicht leisten können. Ein Problem dieser Art war mir noch nie bewusst geworden.
Plötzlich begriff ich: Wie unanständig ist das, von Kindern etwas zu verlangen, was sie nicht leisten können! Und sie dann auch noch in Sechser-Schubladen zu sortieren und zu etikettieren.

Sicherlich haben Heinz Jürgen und Artur Kern nicht allein zusammengewirkt. Außer Erlebnissen, die ich nicht mehr festmachen kann, war noch mehr im Spiel. Ich war plötzlich Schulleiter einer Mini-Schule mit siebzig Kindern geworden und konnte mich nicht mehr ungeprüft-handlungsgewiss fühlen wie in der großen Stadtschule, wo ich in ein Lehrer-Kollektiv ähnlicher Grundüberzeugungen und Verfahrensweisen eingebunden gewesen war. Und nachdem ich gerade erst ein Achtes entlassen  hatte, erlebte ich nun die Kleinen der mir unbekannten Jahrgangsstufen als hilfebedürftig, verletzlich und arglos-gläubig. Obendrein war einer der Neulinge meine eigene Tochter. 
Und in dieser Situation bewirkte wohl Artur Kerns Satz, als der auf andere Gegebenheiten in meinem Kopfe traf, eine Reaktion der pädagogischen Chemie. Ohne Scheu spreche ich heute von meiner „pädagogischen Bekehrung“. Jedenfalls begann ich im Sommer 65, meine Einstellung radikal zu ändern.

Was Heinz-Jürgen angeht, so gräme ich mich nicht. Ich mache mir auch keine Vorwürfe. Und Artur Kern, mit dem ich später oft sprach, habe ich nie gesagt, was einer seiner Sätze in mir ausgelöst hat. (Das allerdings reut mich.) Aber ich hüte die Grundhaltung, die mir durch diese Reaktion erwachsen ist: Es gibt nichts Wichtigeres in der Schule als die menschlichen Beziehungen. Vergesst alle eure didaktischen  Klimmzüge! Darauf sind die Kinder nicht angewiesen. Aber dass sie eure Zuwendung spüren, eure Anteilnahme und euern Einsatz für sie und euern Respekt gegen sie: Darauf sind sie angewiesen. Dass sie mit Freude bei euch lernen. Nicht immer. Wer könnte denn das? Aber möglichst oft.

Und wenn ihr das nur könnt, indem ihr Erwartungen oder gar Verlangen der Obrigkeit verletzt? Dann, in Pestalozzi Namen!, verletzt sie! 
Also spricht Zuckmayers Hauptmann von Köpenick: „Erst kommt de Wanze, Friedrich, un’ dann de Wanzenordnung – erst der Mensch, un’ dann de Menschenordnung.“

Die Verfasstheit unserer Schule können wir nicht ändern.  Aber in unserem kleinen Biotop haben wir Macht  – ob sich unsere Verhaltensänderung so atypisch entwickelt wie bei mir oder irgendwie modellkonform.

(Dass ich mich hier in dieser Art „auf links gezogen“ habe, belegt, dass das Umgehen mit Lehrer-Problemen anscheinend dochin der Pension enthalten ist.)