Zur Physik der Löcher in der Schule (Vorschriftengeflecht)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Sonntag, 14. Juni 2009 12:05
„Also, die Löcher im Käse,
das ist bei der Fabrikation...“
Kurt Tucholsky
Als Lehrer wissen wir: Worte sind Zwerge, Beispiele sind Riesen. Also sei hier veranschaulicht.
Szene 1: Vor Karl Müller, Beamter im Straßenverkehrsamt, sitzt ein gewisser Alex, ein alter Mann, dem Schlichtheit des Geistes und Armut aus der Jacke gucken. Er hat die vom TÜV gefundenen Mängel an seinem Auto noch nicht beseitigen lassen, weil ihn das zu teuer kam. Nun droht ihm die Zwangsstilllegung.
Privat hat Karl Müller Mitleid. Aber hinter seinem Schreibtisch ist er ein Rädchen in der großen Maschine der öffentlichen Verwaltung. Da kann er nicht fragen, welche Entscheidung dem Alten jetzt dienlich sei. Wenn er überhaupt fragt, dann so: Was gebietet die Vorschrift? Das zu tun ist seine Pflicht. Eine individuelle Entscheidung würde der Ungerechtigkeit und Willkür Tür und Tor öffnen. Drei Tage gibt er dem Alten noch Zeit. Dann wird sein Auto unweigerlich stillgelegt. Und das – sorry! – ist richtig so.
Szene 2: Vor Karl Müller, Lehrer einer Hauptschulklasse 10, liegt das Klassenarbeitsheft eines gewissen Alex. Die Arbeit taugt nichts. Die ist „mangelhaft“ mit Stern und Schulterband. Ein „gerechtes“ Urteil aber wäre der letzte Anlass, dem Alex die Fünf in einem weiteren Hauptfach zu geben und ihm damit seinen Hauptschulabschluss zu verweigern. Es ist schon sein zweiter Anlauf. Also sein letzter.
Müller II sitzt nicht im Straßenverkehrsamt, sondern am häuslichen Schreibtisch. Seines Amtes ist nicht, zuerst nach der Vorschrift zu fragen. Seine oberste Dienstpflicht als Lehrer ist, sich zu fragen: Was ist gut für diesen Jungen? Nicht nur für Kinder allgemein. Das sowieso. Sondern für diesen Alex. Ist Müller II also kein Verwaltungsbeamter? Doch. Ist er. Schule ist Teil des Organisationsgefüges der öffentlichen Verwaltung, unterstes Glied in der Hierarchie der Schulverwaltung. Also ist Karl Müller Verwaltungsbeamter.
Nein, ist er nicht. Als Teil der öffentlichen Schule, die dem Unterricht und der Erziehung junger Menschen dient, ist er Pädagoge. Als solcher kann er nur tätig sein, wenn er einen gewissen Freiheits- und Beurteilungsspielraum hat.
Was denn nun? Er ist beides. Der Lehrer Müller an seinem Schreibtisch leidet in diesem Falle an der Doppelnatur der Schule. Damit hat er ein Problem. Aber das Umgehen mit Problemen ist in seinem Gehalt enthalten.
Fühlt er sich mehr als Verwaltungsbeamter, wird er den Alex – tut mir schrecklich leid! – durch den Rost rütteln. Es muss auch Straßenfeger und Löchermacher für Eintrittskarten geben. Obsiegt aber sein pädagogisches Gewissen, bedenkt er den Charakter des Jungen, seine Gesamtbild. Alex Straßenfeger? Kommt der Kollege zu dem Schluss: Nein, der nicht!, dann prüft er vielleicht seine Möglichkeiten.
Dass er über die viel beschworene pädagogische Freiheit verfügt, weiß er, ob die nun aus Artikel 5.3 GG herzuleiten und also eine Sonderform der Lehrfreiheit - oder ob sie aus der Natur des Unterrichts herzuleiten sei. Nun prüft er, welche Grenzen dieser Freiheit Schulgesetz, Rechtsverordnungen, Erlasse, Verordnungen des RP, des Schulamts usw. usw. zu setzen versuchen. In Ruhe studieren, wie sich das für einen richtigen Beamten gehört, kann er nicht, denn dauernd quatscht ihm das Gewissen dazwischen. Wenn der Kollege Müller seine Rolle als Inhaber von Doppelnatur gewissenhaft wahrnimmt, studiert er auch, was die Vorschriften nicht sagen; ein bisschen Phantasie darf man ab A 12 aufwärts schon erwarten. Aber lösen muss er das Problem – so oder so.
Hier hilft ihm die Physik der Löcher. Nicht von as-trophysikalischen Phänomenen ist die Rede, sondern von Nadelarbeit, vor allem vom sogenannten Stopfen. Diese löbliche Tätigkeit vergangener Hausfrauen-Generationen füllte Löcher in stofflichem Gewebe aller Art. Nehmen wir zum Beispiel eine Socke. Wenn da jemand ein Loch ins Strumpfgewebe gelaufen hatte, wurde das „gestopft“: eine Reihe Fäden senkrecht, eine waagerecht. In unserer kleinen Grafik sind als erster Schritt vier Löcher entstanden.
Im übertragenen Sinne: So grob wie in Bild 1 (bitte - ist ja nur ein Beispiel!) sind des Gesetzes Löcher. Kein Lehrer könnte seine Doppelnatur in so breiten Räumen verantwortungsvoll ausleben. Da gehören schon ein paar Fäden mehr eingezogen, auf dass ihm im Alltag Halt werde. Dafür gibt es Rechtsverordnungen, vom Kultusminister konstruiert und vom Parlamentsausschuss beschlossen (Bild 2). Nun haben wir zwar kleinere Löcher, aber auch mehr.
So viel Verantwortung mag der Kultusminister der Lehrerschaft nicht zumuten. Er zieht mit Erlasshilfe weitere Fäden ein (Bild 3). Man muss es leider sagen: Die sind von minderer Rechtsqualität, auch wenn die Ministerialen das gar nicht gern hören. Kein Richter ist an sie gebunden. Aber im Betriebsinneren sind sie wirksam und hinsichtlich der Löcherzahl sogar sehr erfolgreich: Die vervielfacht sich.
Zu meiner Zeit gab es da noch die Mittelbehörde, die sich selbst obere nannte: den Regierungspräsidenten mit einer großzügig ausgebauten Schulabteilung. Deren Beamte pflegten das Gewebe von Lehrers Vorschriften immer noch als außerordentlich stopfbedürftig zu empfinden. Sie waren wichtige Leute, was schon daraus hervorging, dass es sie überhaupt gab. (Mit den Verhältnissen in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz hatten wir in NRW nichts zu tun.) Die Leute vom „RP“ ahnten, was für eine Lochschlüpferei ohne ihre Stopfkunst stattfinden würde, griffen sie nicht ein. Mit Hilfe ihres provinzialen Blättchens verdichteten sie das Gewebe weiter und fabrizierten dabei zwangsläufig weitere Löcher (Bild 4).
Nun nahmen niedere Schulaufsichtsbeamte, allerlei Direktoren und Rektoren mit Verdruss zur Kenntnis, dass die vergrößerte Löcherzahl neuen Regelungsbedarf gezeugt hatte. Sie beschlossen, alle Löcher zuzustopfen, derer sie habhaft werden konnten, und verfeinerten das Werk mit Verfügungen, Anordnungen, Dienstanweisungen mündlicher und schriftlicher Art und manchem mehr. (Bild 5)
Das rief die Schulträger auf den Plan. Inzwischen konnte die ganze Fabrikation so missverstanden werden, als dürfe man jene beim Stopfen übergehen, die mit Millionen für Gebäude und deren Unterhaltung und Einrichtung, für Qualifizierung und Entlohnung der Hausmeister und fürs Schulehalten überhaupt erst möglich machen (kein Bild).
Dem geneigten Betrachter wird klar: Wer sich in diesem Gewebe bewegt, bewegt sich zwangsläufig in einem großen Gewirr von Löchern. Der kann gar nicht anders, denn „die Löcher ..., das ist bei der Fabrikation“. Spätestens beim Anblick der schlichten Grafik leuchtet auch physikalisch ungebildeten Menschen wie dem Autor ein: Der pädagogische Handlungsspielraum ist kein Mysterium, sondern ein physikalischer Fakt: Je mehr gestopft wird, desto mehr Löcher entstehen. Und da jeder Stopfer sein eigenes Garn benutzt: rotes, grünes, häufig schwarzes, dickes, dünnes, festes, morsches ..., ergeben die Löcher kein stimmiges Ganzes. Anders gesagt: Da sind Widersprüche in Hülle und Fülle eingewebt. Und das wimmelt nur so von mehr oder weniger vagen Abstufungen wie soll, sollte, kann, hat zu / ist zu, in der Regel, im Allgemeinen usw., und Duden/Wahrig/Mackensen & Co. liefern erstaunliche Erkenntnisse zu jedem von ihnen. Oft fehlen sogar diese Vagheiten. Da wird nur hoffnungsfroh konstatiert: Dies und das wird so und so gehandlet.
Wenn sich nun Müller II, der Pädagoge, von Berufs wegen durch die bei der Stopferei entstandenen Räume schlängeln muss, ahnt er: Löcher sind schlüpfbar. Sonst wären sie ja nicht erzeugt worden.
Keine Schulreform kann daran etwas ändern. Denn der Traum aller Kunststopfer (Bild 6) kann nie Wirklichkeit werden. Wer als Pädagoge sich von Löchern gefesselt fühlt, hat die Physik gegen sich. PS: Müller II hat Alex' Arbeit überhaupt nicht benotet. Wo steht geschrieben, dass man das unbedingt muss?