Pestalozzis Glück und Spitzers Betten (Lehrergesundheit)

„Ein Erzieher - fürwahr, 
eine erhabene Seele!“

(Jean Jacques Rousseau)


Johann Heinrich Pestalozzi: „Wie glücklich muss der sein, dessen Beruf es ist, andere zum Glück, zu immer währendem Glück zu führen.“  O ja.

Wilhelm Flitner: „Er muss sich darum vor allem bemühen, das Kind zu verstehen und es da gelten zu lassen, wo es seine eigene Mitte gefunden hat.“ Schöön.

Friedrich W. Nietzsche: „Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst – sogar sich selbst.“ Toll.

Johann Friedrich Herbart: „Der Erzieher sieht in dem noch unreifen Menschen eine Kraft, welche zu stärken, umherzulenken und zusammenzuhalten seine beständige Aufmerksamkeit erfordert.“ Stimmt.

Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie: „Deutschland verfügt über mehr psychosomatische Klinikbetten als der Rest der Welt zusammengenommen. Und in diesen Betten liegen vor allem Lehrer.“  Stimmt auch.

Und wenn diese Lehrer die Betten in der Psychiatrie verlassen, kommen sie nur selten in die Schule zurück. Sie sind nämlich dienstunfähig und werden „kaputtgeschrieben“ (Amtsarztjargon).

Wer zu Flitners Zeit einem Kind im Schulflur sagte: „Da liegt ein Mantel, häng den bitte auf“, der erlebte drei Kinder gleichzeitig, die herbeispritzten, um den Mantel aufzuhängen. Heute mault das angesprochene: „Warum? Ist doch nicht meiner!“ Wer zu Pestalozzis Zeit unterrichtete, regierte zwar 70, 80 Kinder mehrerer Jahrgänge in einem Zimmerchen, aber mit dem gelernten Instrumentarium und der nötigen Strenge ließen die sich auch regieren. Herbart, Schöpfer des geflügelten Worts, die Verschiedenheit der Köpfe sei das große Hindernis aller Schulbildung, konnte nicht ahnen, dass da einmal lauter Köpfe fremder Kulturen und Zunge beisammensitzen würden, hätte nie gedacht, dass das aus diesen Köpfen tröpfelnde Deutsch bei aller Armut oft besser sein würde als bei vielen deutschen Kindern. Natürlich war auch unvorstellbar, dass die Obrigkeit erwarten könnte, an diesen Sprachproblemen mit fünf mal 45 Minuten wöchentlich erfolgreich arbeiten zu können. Herbart hätte wohl auch nicht für möglich gehalten, dass 20 Kinder zu Beginn des 21. Jahrhunderts schwieriger zu handhaben sein würden als 70, 80 Zöglinge des achtzehnten und neunzehnten. Dass die Schule für viele Kinder zur ersten (manchmal gar der einzigen) Erziehungsinstanz werden würde. Netto anderthalb Kilo Bundes-, Landes- und Regionalvorschriften meiner Zeit waren sogar in Preußen unvorstellbar. Zu meiner Zeit wurde unser Treiben mit tischtuchgroßen Tabellen überwacht; inzwischen sind  längst big brothers PCs in die Schulen eingezogen.

Als Lehrer, Schulleiter und Schulaufsichtsmensch erfuhr ich: Die große Masse der Lehrerinnen und Lehrer an Grund- und Hauptschulen verbrauchte sich entsprechend ihrem pädagogischen Selbstverständnis als Lehrersozialpädarbeiterzieher und hätte nur zu gern häufiger die Glücksgefühle des Johann Heinrich Pestalozzi gehabt. Dass dieses Selbstverständnis sich geändert habe, kann ich  mir nicht vorstellen. Sicherlich geändert haben sich aber die institutionellen Rahmenbedingungen. Die sind inzwischen nicht nur schlimm wie zu meiner Zeit, sie sind vielfach ausgesprochen pädagogenfeindlich. Wie anders soll man das nennen, wenn der Staat nicht seine Schulen kindertauglich macht, sondern die Lehrerschaft unter Druck setzt? Wenn er von Pädagogen verlangt, mit Hilfe von Hundertstelnoten (unfassbar: Hundertstelnoten in der Grundschule!) über den Schulwechsel nach Klasse 4 zu entscheiden?

So blauäugig dürfen wir wohl nicht sein, zwischen pädagogischem Selbstverständnis und Spitzers Betten keinen Zusammenhang zu sehen.

Zu meiner Zeit war selbstverständlich, dass wir uns für Kinder einsetzten und nicht nur fünfundvierzigminutenweise Stoff absonderten. Es zeichnete uns aus, dass wir uns besonders für die Schwachen ins Zeug legten und für die Langsamen abrackerten.

Das kann sich nicht geändert haben. Immer noch ehrt es Sie, wenn Sie „Ihre“ Kinder als Kinder sehen und nicht bloß als Lehrobjekte. Es ist rühmenswert,  wenn Sie sich für sie zerreißen – nein, das eben nicht. Die Kinder haben nichts von einer zerrissenen Lehrerin.

Sie müssen nicht jeden Nachmittag mit Planungsgrübeleien verbringen, nicht jede Woche ein neues Buch lesen, jeden Monat zwei Fachzeitschriften ausschlachten, müssen nicht bis in die Nacht Arbeitsmittel basteln. Haben Sie keine Angst, vor sich selber egoistisch zu erscheinen, wenn Sie beizeiten am Tag sagen: Schluss mit Schule! Gedanken an ein bestimmtes Problemkind haben in Ihrem Schlafzimmer nichts zu suchen!

Sie haben heute den Alex angeschrien, und Pestalozzi hat nie geschrien? Vielleicht hat er wirklich nicht – aber an Ihrer Stellehätte er. Wetten?  (Im Übrigen: wenn die Kinder sich von Ihnen akzeptiert fühlen und vor Schulschluss alle wieder einigermaßen heil & zufrieden sind, hinterlässt Ihre Schreierei sowieso keine Scharten.)

Sie grämen sich über „Erziehungsberechtigte“,  für deren Kinder Sie sich verbrauchen und die dennoch nur mosern? Willy Brandt sagte mal: „Die Welt ist voller Narren.“ Auch Narren kriegen Kinder. Umgehen mit Narren ist in Ihrem Gehalt enthalten.

In windstillen Behördenräumen entstehen gelegentlich Vorschriften, die sich in den Stürmen Ihres Alltags wunderlich ausnehmen? Machen Sie Löcher darein. Es steckt nie böser Wille dahinter.

„Erziehung heißt, auf Ichdurchsetzung verzichten, heißt selbstlos sein.“ Schon zu meiner Zeit war so was unverdaulicher Schnack. Wenn das heutzutage ein Lehrer sagt und ernst meint, dann ist er entweder die Reinkarnation des Johann Heinrich Pestalozzi  oder war nur wenige Jahre Lehrer - oder er war rechtzeitig beim Amtsarzt. Es ist Ihr Beruf, „andere zum Glück zu führen?“ Na gut, aber nicht um den Preis einer Bettzeit bei Professor Spitzer, auch nicht gegen eine Vorladung beim Amtsarzt.

Im Februar 2009 erklärte ein deutscher Psychologie-Professor, viele Lehrer seien für ihren Beruf nicht geeignet, sie seien vorzeitig ausgebrannt. Lernen Sie daraus: Pusten Sie nicht ohne Not ins Feuer! Verbrennen Sie nicht Ihre Eignung. Denken Sie nicht immer nur an die lieben Kleinen! Machen Sie sich’s zur Grundforderung: Sei auch gut zu dir selbst! Sie müssen gesund bleiben! Ihnen muss es gut gehen! Wie anders wollen Sie freudiges Lernen anfachen? Und wenn Sie schon meinen, Sie müssten sich für Ihre Kinder zerfransen, dann denken Sie doch auch an die, die Sie in zehn, zwanzig Jahren haben werden und die dann nicht unter einer zerfransten Lehrerin leiden dürfen.

(NS: Dass der erwähnte Psycho-Prof demnächst nicht nur die Eignung von Pädagogen fürs System, sondern die Eignung des Systems für Pädagogik untersucht, steht nicht zu erwarten.)