Muh-muh! (Unterrichtsplanung)

„Wie ist das möglich, 
dachte der Schulrat, 
dass ich auf meine alten Tage 
noch so was Schönes zu sehen kriege?“

(Kollege Walter Kempowski in „Heile Welt“)


Der Trick ist alt. Auch ich hatte als junger Lehrer für die damals nicht angemeldeten Schulrats-„Visitationen“ ein paar gut ausgearbeitete Unterrichtsvorbereitungen in petto, allerdings solche, die ich angeblich schon erledigt hatte. (Die Chuzpe des Buch-Kempowski, Planung nicht nur zu türken, sondern sie sogar vor seiner Merkwürden Augen umzusetzen, ging mir ab. Ich fürchtete, Dr. Herkenrath, damals mein Schulrat in Wuppertal, könnte es merken.)  Meine „Planungen“ waren abgeheftet in einem Schnellhefter, auf dem groß „IV“ stand, als hätte ich noch drei weitere Stücke dieses Lehrerzaubers im Archiv.

Das ist mehr als ein halbes Jahrhundert her und deshalb längst verjährt. Gar mehr als achtzig Jahre alt ist Fritz Karsens Verdikt: „Es ist der Gipfel pädagogischen Unsinns, wenn man noch immer von angehenden Lehrern sogenannte ausgearbeitete Lehrproben ... verlangt.” Wer mehr dazu wissen will, lese, was Hugo Gaudig, auch schon lange tot, über diese „Lehrerfreuden“ spottete.

Wie geht’s denn heute zu, wenn Kolleginnen oder Kollegen angestellt oder verbeamtet werden sollen? Was wollen Fach- und Seminarleiter zu lesen haben, wenn sie hinten auf dem Besucherstühlchen sitzen? Ich weiß es nicht. Vermutlich sind längst Varianten des „pädagogischen Unsinns“ in Mode.

Wir füttern - hilf, Herr, wie wird man sich wieder echauffieren! – ständig irgendwelche heiligen Kühe, „gegenwärtiger Stand der Wissenschaft“ genannt. Mal war es die „kompensatorische Erziehung“, mal die Mengenlehre, dann verlangte die „kommunikative Wende” ein paar Pirouetten, eine Zeitlang musste man über restringierten und elaborierten Code parlieren können, und DDR-Kolleginnen und -Kollegen gingen vor der „Lipezker Methode" und der „Stoffeinheitenplanung" in Deckung.

Aber unter all den Rindviechern auf den fetten Weiden der Schuldidaktik war zu meiner Zeit keine Kuh heiliger als die Unterrichtsplanung nach „Modell”. Mit Hilfe von Planungs-„Modellen“ sollten wir daran teilhaben, das Kind aus der Schule wegzureformieren und das Lehrobjekt Schüler wieder in seine tumben Pflichten einzusetzen. Und als sollte das auch dem letzten Lehrer drastisch vor Augen geführt werden, haben die jungen Kollegen beigebracht gekriegt, ihre Lehrobjekte in der schandbaren Kürzelsprache von Didaktikern „S” zu nennen, Plural „SS". Ausgerechnet. Und niemand schämte sich. Damals erklommen bei Schulratsbesuchen fertige Lehrer mit Hilfe von SS-Modellen viel höhere Gipfel als angehende Lehrer zu Karsens Zeiten.

Für meinen Amtsbruder Walter Kempowski und mich war diese Art Kuhpflege zum Glück schon nicht mehr geboten: Wir waren längst verbeamptet. Ich war Schulleiter, und er lehrte und schrieb. Aber als ich Schulrat wurde, kriegte ich doch noch ein paar Jahre lang mit den heiligen Tieren zu tun.

Ich wusste, dass Frau Müller, die mir ihren 10- oder 20-Seiten-Modell-Nachbau parat legte, im Alltag nicht mal für eine Stunde täglich auch nur eine Seite ähnlich plante. Und sie wusste, dass ich das wusste. Sie wusste auch, dass ich selbst nicht anders gehandelt hatte. Und ich wusste, dass sie das wusste. Dennoch erforderte es die Konvention, dass wir beide an dieser Schwindel-Inszenierung teilhatten. Ich glaubte nicht, dass wir ausgerechnet unter Pädagogen Unaufrichtigkeit dieses Ausmaßes institutionalisieren dürften.

Über jede Kollegin freute ich mich, die Inhalte bedachte statt Lehr- oder Lernziele. Aber noch wagte ich nicht, mich als Modell-Gegner zu outen. Also schrieb ich eine Zeitlang ans Ende der zweiten oder dritten Seite des Planungs-Konvoluts: „Bis hierhin gelesen“.  Das half nicht. Zu sehr hatte das Gebrüll auf den Weiden die Kolleginnen und Kollegen eingeschüchtert. Schließlich ließ ich durchsickern: Ich sehe auch ohne Gebrauchsanweisung, was ihr mit euren Kindern treibt. Und euer Klassenbuch könnt ihr in der Schublade lassen. (Weil ich zu oft selbst viele Wochen „Lehrberichte“ nachgetragen hatte, ließ ich mich nicht gern behumpsen.)

Viel wichtiger als unsere didaktisch-methodischen Kunststücke ist doch, wie eine Lehrerin mit Kindern umgeht, welches Betriebsklima sie schafft. Kriegt sie ihre Klasse ans Arbeiten, nicht nur ans Zuhören? Kann sie Anregungen, Fragen, Wünsche von Kindern spontan aufgreifen? Erkennt sie Gelegenheiten und kann sie im „Gelegenheitsunterricht” beim Schopf fassen? Haben ihre Kinder auch mal was zu lachen? Welche Möglichkeiten hat sie gefunden, Kinder anzuleiten, ihr jeweiliges „Lernmuster” zu nutzen? Kann ich ihr dabei helfen? Exekutiert sie den Stundenplan und den Dreiviertelstundentakt in Grund- und Hauptschule wie Fachlehrer im Gymnasium? Haben die Kinder auch Gelegenheit zu lernen, was zu lernen ihnen ein Bedürfnis ist? Können sie dabei auch mal über ihre Zeit selbst verfügen und über die Sozialform selbst entscheiden? Vor allem: Wie gelingt es ihr, in den über ihr zusammenschlagenden Anforderungen nicht zu ersaufen? Kann ich ihr helfen?

Und wenn der Lehrer näher im Zentrum steht, wie das zwangsläufig oft vorkommt, dann war ich neugierig zu erfahren, wie er Kinder an der Planung des zu Behandelnden beteiligte, damit er sie nicht zu Behandelten machte.

Meine Freunde und ich wollten also etwas über der Kollegen Selbstverständnis erfahren, über die Kinder, ihre Lerngewohnheiten und -fortschritte. Wie sie aber solche Schularbeitszeit vorausbedachten, was sie wie planen, musste jede/jeder selber wissen. Wenn, ließ ich wissen, solche Papiere sein müssen, schreibt mir auf höchstens zwei Seiten etwas über die Kinder auf, meinetwegen auch, was in den nächsten 20, 30, 40, 50... Minuten voraussichtlich alles stattfinden wird. Vielleicht kommt ja alles ganz anders.

Wie also geht’s heute zu? Ich weiß es nicht. Dass aber „Stand der Wissenschaft“ sein könnte, was meine Freunde und ich damals trieben, kann ich nicht glauben. Vermutlich werden irgendwelche Varianten des „pädagogischen Unsinns“ in  Mode sein. Die Pädagogik entwickelt sich ja ständig weiter.

Also wird es auch Tricks geben, sich mit dem Unsinn zu arrangieren. Nur dass man heute noch mit des Kollegen Kempowski Schlicht-Version durchkommen könnte, ist unwahrscheinlich. Dann müssen sich die Heutigen eben etwas Neues einfallen lassen. Das aber sollten sie tun, denn gefährlich ist’s, ungeschützt auf pädagogische Vernunft zu setzen. Zu meiner Zeit haben sich zwei Kollegen mit der Berufung auf meine Meinung, die ich in der GRUNDSCHULE geäußert hatte, ihre Prüfungsnote ruinieren lassen.

Den unbekannten Tätern ein lautes Muh-muh!