Wir Kinderschädiger (Gutachten der Grundschule)

für Sabine Czerny und Christa Revermann

Mit den Jahren verfügt der Erzieher über ein 
mehr oder weniger verlässliches Fingerspitzengefühl,
über eine Art pädagogischen Spürsinn.

(Erich Hermann)


„Mein Sohn möchte mit Ihnen sprechen“, sagte mein Tankwart. Zum vereinbarten Termin kam Thomas, Absolvent einer Sonderschule für Lernbehinderte. „Ich möchte den Hauptschulabschluss machen.“ Zu helfen war leicht. Ich ermutigte ihn. Er schaffte es.
Im nächsten Jahr: „Mein Sohn möchte mit Ihnen sprechen.“ Diesmal wollte er den mittleren Bildungsabschluss machen. Ich ermutigte ihn. Er schaffte es. Dann das dritte Gespräch: „Ich möchte das Abitur machen.“ Wegen des zu erwartenden Englisch-Defizits schickte Vater T. seinen Sohn ein halbes Jahr zur Arbeit in London, und ich bescheinigte dem jungen Mann  feierlich eine Legasthenie mit Metastasen, Hautausschlag und Beckenschiefstand. Thomas schaffte es abermals. 
Ich  versichere  feierlich: Die  Geschichte ist wahr.

Wie ist so was möglich? Für den damals prüfenden Sonderschullehrer und meinen für die abschließende Einweisung zuständigen Kollegen im Schulamt möchte ich die Hand ins Feuer legen. Es gibt nur eine Erklärung: Selbst „wasserdicht“ erscheinende Entscheidungen zur Schullaufbahn von Kindern können falsch sein. Ein Prozent Wahrscheinlichkeit? Es sind natürlich viel  mehr, aber für Thomas waren es hundert.

Fall 2: Markus war mein Schüler. Bei Pestalozzi: ein schwacher, oh, ein schwacher. Als nach dreieinhalb Jahren Grundschulzeit die Übergangsentscheidung anstand, erklärten seine Eltern mit sonorer Gewissheit, sie hätten das Cäcilien-Gymnasium gewählt.
Ich war fassungslos. Weil ich nach zwei Jahrzehnten im Geschäft sicher war, die Chancen meiner Übergänger gut einschätzen zu können, meinte ich in diesem Fall zu wissen: Ohne göttlichen Beistand war auch ein mittlerer Bildungsabschluss undenkbar. So viel „Fingerspitzengefühl“ und „pädagogischen Spürsinn“ hat man schließlich nach zwanzig Jahren.
Dreimal habe ich nachmittags mit Menschen- und Engelszungen geredet, Flöte geblasen, Trompete geschmettert und Pauke geschlagen. In finstersten Farben habe ich die übliche Bergab-Karriere geschildert: Nach vier Jahren Gymnasium Rausschmiss aus Klasse 6, drei Jahre Würgen auf der Realschule, endlich, längst im zeugungsfähigen Alter, Übergang in den Reparaturbetrieb für kinderschädigenden Elternehrgeiz: die Hauptschule. Inzwischen völlig ruiniertes Selbstwertgefühl, schwer verhaltensgestört, drogenabhängig, die ganze Familie aus dem Leim, der Friede auf Jahre perdu. Wollen Sie das?

Sie wollten. Da gab ich nach. Halten zu Gnaden: Ich lasse mich nicht zum Büttel verbohrter Ideologen machen! Und außer einem mit Getöse aufgeschäumten Du-du! könnt ihr mir gar nichts.
Meine Frau hatte zu dieser Zeit ein kleines Geschäft in Schwelm. Markus' Mutter zählte nicht zu den Kundinnen. Aber jedes Jahr zweimal, zur Zeugniszeit, erschien sie im Geschäft, nannte triumphierend Markus' Noten, ließ mir Grüße ausrichten und kaufte ein paar Servietten.
Auch Markus hat längst Abitur. Weil ich mehr als ein dutzendmal seiner Mutter Grüße empfangen habe, hatte ich Zeit einzusehen: Ich habe mich geirrt. Wenn ich mich sogar in diesem Falle geirrt habe: wie viele andere Fehlentscheidungen muss ich in meinem Schulmeisterleben getroffen haben! Und was mögen die wohl für die Kinder bedeutet haben?

Wir Volksschullehrer sind Menschen, die sich für ihre Schüler möglichst umfassend verantwortlich fühlen. Es ehrt uns, wenn wir sie als „unsere” Kinder betrachten. Aber sie sind es nicht. Wir sollten mit Fleiß vermeiden, nach läppischen dreieinhalb Jahren Grundschulzeit Entscheidungen über ihre Laufbahn zu fällen. Unsere Sache ist es, Eltern nach besten Kräften zu raten, ihnen schriftlich zu geben, was ihr Kind kann und was es nicht kann. Welche Art Förderung in der neuen Schule unbedingt gewährleistet sein muss.       Aber es ist unmöglich, Neunjährige „in Begabte und Unbegabte, in Schnelle und Lahme, in künftige Handwerker und künftige Wissenschaftler einzuteilen“ (Tanjev Schultz in der SZ). Dennoch wurde es zu meiner Zeit von uns verlangt. Thomas und Markus lehrten mich: Das einzig verantwortbare Urteil ist: „vielleicht geeignet“. In den letzten zehn Jahren als Grundschullehrer habe ich den Ideologen die Kinder schädigende Büttel-Gefolgschaft verweigert und kein Kind mehr mit „nicht geeignet“ beurteilt.

Das alles überzeugt nicht? Da habe ich noch eine dritte Geschichte, und auch diesmal versichere ich: Sie ist wahr. 
Als die Hauptschulen unseres Bezirks uns bedrängten, das Unsere gegen ihren Schülermangel zu tun, habe ich als Schulrat einmal die Grundschulen gebeten, alle Zweifelsfälle unbedingt zum dreitägigen Probeunterricht zu melden. Mit viel Mühe kratzten wir aus 63 Grundschulen in fünf Aufsichtsbezirken zwölf Kandidaten zusammen. Mit wiederum viel Mühe haben wir acht von denen bescheinigt: wirklich nicht geeignet! Jede unserer 18 Hauptschulen hätte also statistisch mit fast einem halben zusätzlichen Fünftklässler rechnen können.

Hätte, denn drei Kinder flüchteten auf eine Privatschule. So mussten sich, wieder statistisch, jeweils drei Hauptschulen einen zusätzlichen Schüler teilen.

Was, wenn der nun auch noch ein Markus war?