Die Qualität einer Schule (Was ist wichtig?)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Dienstag, 09. September 2008 11:56
Eure Schule verliert unterwegs 462.000 - jährlich...
Ihr verliert sie und kehrt nicht zurück, um sie zu suchen.
Ein Schüler über die italienische Schule in: Scuola di Barbiana;
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1970
Wohl der Schule, die sich mit einem Sieger im Wettbewerb „Jugend forscht" schmücken kann! Lob und Preis dem Schulorchester für sein Konzert! Ein Hoch auf den Sieger der Mathematikolympiade - und auf seine Lehrer!
Aber kommt es darauf an?
Nach einem Disput über die Qualität seiner Schulform schickte mir ein Studiendirektor als Beweis erfolgreicher Arbeit an seiner Schule eine Tonbandkassette von seiner Schulband.
Das war ein Missverständnis. Wer wollte bestreiten, dass in Schulen künftige Jazztrompeter, Pianisten, Europameister am Seitpferd, mathematische Genies, Schachgroßmeister und Lyriker gefördert werden? Aber misst sich an denen die Qualität einer Schule?
Nach einem alten Lehrerschnack kann nicht mal die Schule auf Dauer leistungsfähige Kinder am Lernerfolg hindern. Das ist doch keine Kunst: die Starken stark werden zu lassen. Das macht Spaß. Deshalb kann’s jeder. Aber die Schwachen fördern - das ist schwierig! Denn die brauchen uns lebensnotwendig, nicht die Starken.
In vielen Schulen sucht jeder vierte oder gar jeder dritte Schüler außerhalb seiner Schule (Nach-)Hilfe, die er innerhalb nicht findet. Was sind wir für eine Schule, die nicht mal mehr zur Kenntnis nimmt, dass landauf, landab Tausende (wirklich: Tausende) von Instituten, Selbsthilfegruppen von Eltern, die Volkshochschule, das Rote Kreuz, der Kinderschutzbund, die Arbeiterwohlfahrt und Jehovas Zeugen sich um jene jungen Menschen kümmern, die durch den Schüttelrost unseres Bildungssystems zu fallen drohen? Was für eine Schande, dass kommerzielle Nachhilfeeinrichtungen Kindern das geben müssen, wofür wir sie per Gesetz in die Schule zwingen!
Was zu meiner Zeit wir Lehrer jeder für sich erlebten, wird heute in großen Untersuchungen als allgemeingültig bestätigt: das Rüttelsystem des Schulrosts. Bis heute kann kein einziger unserer Kultusminister sagen, wie viele junge Menschen, die einst hoffnungsfroh ins Gymnasium wechselten, ein paar Jahre später ohne jeden Abschluss nach unten abgelassen werden und im Schlackeschoss enden. „Deren Anzahl stellt seitens des Ministeriums kein statistisches Erhebungskriterium dar“ und: „... wird eine derartige Statistik nicht erhoben“ und: ... liegt kein Zahlenmaterial vor“. So antworteten alle sechzehn. Ich habe sie alle gefragt. Was ist das für ein System, das nicht wissen will, wie viele Menschen es durch seinen Rost rüttelt? Die fragen doch sonst nach jedem konvertierten Buddhisten und nach jedem Zahnschiefstand!
Aber so einfach, dass es wieder mal nur die Bedingungen seien, ist es auch diesmal nicht. Versuchen wir, wir, denen aufzuhelfen, die erschöpft, entmutigt, gedemütigt unterwegs liegen bleiben? Versuchen es wenigstens? Auch dann, wenn sie krakeelen, um sich schlagen und uns beschimpfen?
Nicht regelmäßig ist das zu schaffen. Wer hat denn stets so viel Kraft, Phantasie, Zeit, Nerven, Einfühlungsvermögen, Können, kann vernünftig mit Vorschriften umgehen und auch sich immer wieder selbst überwinden? Wer hat denn so viel Frustrationstoleranz. Wer ist denn Tag für Tag zu der konzentrierten Aufmerksamkeit fähig, überhaupt rechtzeitig zu merken, dass ein Schwacher besondere Hilfe braucht.
Nicht an den Starken misst sich unsere Qualität, sondern am Umgang mit den Schwachen. Den Hinkefüßen. Den Bucklichten. Den Kurzatmigen. An denen, die mehr Zeit brauchen. Die gerade noch mitstolpern. An denen mit der „gestörten Biographie”. Die den Durchschnitt kaputtmachen. Die in Gefahr sind, unten ausgeworfen zu werden.
Zu meiner Zeit kannten wir nur einzelne geknickte Halme auf unseren kleinen Äckern. Heute ist das als republikweiter Flurschaden erkannt: Eben diese Benachteiligten sind es, die in unserem System kleingemacht werden. Deutschland muss sich wegen der Benachteiligung von armen Schülern und Migrantenkindern sogar vor dem UNO-Menschenrechtsrat rechtfertigen.
Aber – da hat sich nichts geändert – Kritiker haben natürlich keine Ahnung. „Das dreigliedrige Schulsystem bietet genügend Durchlässigkeit,“ erwiderte am 21. März 2007 der Berliner Bildungssenator auf die Kritik im UNO-Bildungsbericht. Woher weiß er das? Seine eigene Behörde hatte wenige Tage zuvor erklärt, nicht zu wissen, wie viele junge Menschen diese Durchlässigkeit bis unten hin in Schlacke und Asche erleiden.
Wie zu meiner Zeit wird die Frage aller Fragen nur von einzelnen Lehrerinnen und Lehrern gestellt. Sie heißt nicht: Wie weit sind die Besten gekommen? Sondern: Wie viele haben wir unterwegs verloren?