Tut mir Leid! (Bringeschuld Schule)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Donnerstag, 01. Juli 2010 11:55
"Der Erzieher vergleicht seinen Zögling
nicht mit anderen,
er vergleicht ihn mit sich selbst.
Er ist mit keinem zufrieden,
der hinter sich selbst zurückbleibt
und mit keinem unzufrieden,
welcher soviel wird,
als man vermutlich von ihm erwarten durfte."
(Johann Friedrich Herbart 1806)
„Tut mir Leid“, sagte der Fahrlehrer, „beim letzten Mal ist wieder ein Viertel meiner Prüflinge durchgefallen. Was soll ich machen? Meine Schüler sind eben nicht gut genug.“
„Tut mir Leid“, sagte die Schwimmlehrerin, „am Ende einer Schwimmzeit im Hallenbad bleibt immer wieder mal das eine oder andere Kind auf dem Beckenboden liegen. Ich kümmere mich ja schon um die schwachen Schwimmer besonders, aber trotzdem geht manchmal eins dabei drauf.“
Nach wiederholten Lehrerwechseln und Unmengen Unterrichtsausfalls galt die Klasse 8 c unserer Tochter zu Recht als „verlottert“. Zum Schuljahreswechsel 1971 wurden andere Saiten aufgezogen. Die Klasse erhielt zwei neue Lehrerinnen, die für ihre Durchsetzungsfähigkeit bekannt waren, eine für Englisch, die andere für Deutsch. Die beiden taten sich in vorsorglicher Abwehr gegen 24 Jugendliche zusammen. („Arm in Arm vereint mit dir, so fordre ich die Achte in die Schranken.“) Doña Carla I, Fach Englisch, begann. Sie zeigte der Klasse, wo’s langging. Die erste Klassenarbeit endete mit 19 Fünfen und Sechsen.
Elternabend. Die Kollegin bezeichnet 80 Prozent mangelhafter und ungenügender Leistungen als „pädagogische Maßnahme“. Bange Frage, und die Faust zittert in der Hosentasche: „Inwiefern ist das pädagogisch?“ Souverän schmettert sie den schüchternen Angriff ab: Die Maßnahme sei schließlich „gedeckt“ (mithin pädagogisch).
Es folgte der Auftritt von Doña Carla II, Fach Deutsch. Als Selber-Lehrer hatte der Vater vorausgesehen, dass Thema des ersten Aufsatzes Churchills Antrittsrede vor dem Unterhaus 1940 sein würde: „... nothing to offer but blood, tears and sweat“. Er fühlte sich gefordert, schrieb den erwarteten Aufsatz, und die Tochter lernte ihn auswendig. Triumph: Richtig vermutet! Vier Wochen später: „Papa hat ’ne Vier minus!“ Immerhin gehörte seine Note nicht zu den 50 % Fünfen. Abermals hatte die Schulleiterin genehmigt, das Ergebnis zu werten.
Tatsächlich. Eine Vorschrift besagte: „Erreicht bei einer Arbeit ein Drittel der Schüler kein ausreichendes Ergebnis, so...“ Ja, was wohl? ... verzichtet der Lehrer auf die Bewertung? ... wiederholt der Lehrer den offenkundig nicht beherrschten Stoff? ... muss der Lehrer ein günstigeres Fehler- oder Punkteraster ersinnen, um das Ergebnis anzuheben? ... erklärt sich der Lehrer in der Klasse und lässt eine andere, besser konzipierte Arbeit schreiben? Von wegen! „... so entscheidet der Schulleiter, ob die Arbeit gewertet wird.” Und die Schulleiterin hatte unsere beiden Doñas nicht im Regen stehen lassen: Genehmigt!
Da muss man reingetreten sein: Der Veranstalter von Schule hält es für normal, wenn ein Drittel aller Anstrengungen misslingt. Und für ganzflächiges Versagen hat er eine lächerlich niedrige Hemmschwelle eingebaut. Die Schulleiterin, wohl wissend, dass Krähen mit Artgenossen behutsam umgehen, konnte problemlos drübersteigen.
Im Schwimmen gelten andere Maßstäbe als in Deutsch und Englisch. Ziel der Schwimmlehrerin ist, alle ihre Schüler mindestens bis zum Freischwimmerzeugnis zu bringen. Weil es Kinder gibt, die sich schon beim Duschen dem Tode durch Ertrinken nahe wähnen, ist das eine phantastische Aufgabe, und sie wird zufrieden sein, wenn einige Kinder wenigstens den Grad eines Hundepaddlers erreichen. Umso größer ist ihr Stolz, wenn es ihr einmal gelungen ist, alle zum Ziel zu bringen.
Selbstverständlich misst sich auch ein Fahrlehrer an seinem Erfolg, und der stellt sich in der Rate der bestandenen Führerschein-Prüfungen dar. Bei einer Versagensrate von 30 % fiele er in Depressionen, weil ihm die Kundschaft wegliefe und er bald bei der Arbeitsagentur am Hartz IV-Schalter stünde. Gar bei 50 und mehr Prozent kann er seinen Laden zumachen. Nur ein staatliches Unternehmen kann sich ein Verhalten wie das der beiden Lehrerinnen und ihrer Schulleiterin leisten. Der Kundschaft ist ja Weglaufen gesetzlich verboten.
Schlimm ist nicht nur, dass pädagogische Perversionen wie diese vorkommen. Bedrückend ist, dass wir allesamt Geschichten dieser Art aus dem pädagogischen Bestiarium kennen und wissen: So was gibt es. Und uns nur mäßig echauffieren.
Unzählige Gegebenheiten in den Kinderköpfen, in den Elternhäusern und nicht zuletzt unsere Arbeitsbedingungen können wir nicht beeinflussen. Auch deshalb haben wir zwangsläufig Misserfolge, und manchmal kommen sie sogar knüppeldicke. In solchen Fällen haben wir das Recht zu sagen: Ich habe mir redliche Mühe gegeben. Mein selbst gesetztes Ziel, allen zu einem gemeinsamen Grundbestand an Wissen und Können zu verhelfen, habe ich dennoch nicht erreicht. Tut mir Leid.
An der Tatsache, dass grundsätzlich in Schülerleistungen auch Lehrerleistungen stecken, ändert das nichts.