Das Geheimnis der Philonostra (Kuschelpädagogik)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Dienstag, 03. Juni 2008 11:53
"Wer von Geborgenheit und Harmonie redet, will in Wahrheit eine Schule, in der sich Kinder nicht anstrengen müssen.“ („Wauwau“ – Monatsschrift des Vereins für nicht bellende Hunde e.V.)
„Unter dem Deckmantel eines Harmoniebedürfnisses wird die Orientierungslosigkeit der Heranwachsenden gefördert.“ („Blitz & blank“, Mitgliederinformationen der Interessengemeinschaft deutscher Glatzenträger)
„Die Kuschel-Pädagogik ist ein Lernkiller.“ („Sumsum“, Organ des Verbands der Immenfreunde e.V.)
„Die Kuschelpädagogik schafft Wohlgefühl, aber keine Lernergebnisse.“ („Sichere Ruh“, Jahrbuch deutschsprachiger Nachtwächter)
„Aus Softie-Pädagogen müssen wieder Häuptlinge werden, aus Wohlgefühl wieder Lernanstrengung.“ („Echt wahr!“Jahresgabe der Deutschen astrologischen Vereinigung e.V.)
„Deutschland braucht effizienten Frontalunterricht! Schluss mit diffusem Schüleraktivismus!“ („Mesopotamia, Halbjahreszeitschrift der Geschwister für spirituelle Entwicklung des Individuums e.V.)
„Der Lehrberuf ist keine Fortsetzung der Pfadfinderkarriere!“ (Rein und raus, Rundbrief der Kongregation katholischer deutscher Pförtner)
„Leistungswille – nicht Selbstgenügsamkeit! Anstrengung – nicht Wohlfühlgekuschel!“ (Stramm & fest, Mitgliederinformation des Verbands heimattreuer bayerischer Bandagisten)
Ich schwöre vor Pestalozzi und allen Heiligen einen feierlichen Eid: Der Wortlaut der Zitate ist korrekt.
Ob in der Apothekenzeitung, einem Müsli-Blättchen, der WELT oder der Frankfurter Allgemeinen: Immer wieder stieß man in den letzten Jahren beim Lesen auf ähnliche Formulierungen, wenn vom Versagen der Schule die Rede war. Oft dachten wir: „Diesen Satz kenn’ ich doch! Diese Wendung ist mir vertraut. Das hab ich doch schon mal gelesen!“ Schließlich hatten wir den Verdacht: Dahinter steckt eine zentrale Steuerung!
Der Verdacht war berechtigt. An dieser Stelle soll endlich das Geheimnis gelüftet werden, wer dahinter steckte.
Für Ostern 2008 findet sich im Gästebuch des Schweizer Alpengasthofs Grüezi ein handschriftlicher Eintrag, in dem von der gelungenen Rettung der abendländischen Kultur die Rede ist, kaum lesbar unterschrieben von einem „Dr. Krikelkrakel, Ostd.“
Zu 37 Namen stehen lauter ähnliche Berufsbezeichnungen: Studienrat, Rektor, Oberstudiendirektor, Konrektorin, Seminarleiter, Schulrat, Mineralienrat, Studiendirektor - in Wahrheit also fast lauter Lehrer.
Die Herrschaften waren Stammgäste im Grüezi. Als internationale Studien dem deutschen und schweizerischen Bildungswesen Jahr für Jahr ein vernichtendes Zeugnis nach dem anderen ausgestellt hatten, trafen sich einflussreiche deutsche Lehrer mit schweizerischen Gesinnungsgenossen. Lasst uns, so sprachen sie untereinander, die Gelegenheit nutzen, um die Stimmung im Lande gegen übertriebenes Harmoniebedürfnis in der Schule zu wenden. Und auch mit der Geringschätzung unserer Lehrkunst soll endlich Schluss sein! Wer der nationalen Schande begegnen will, muss die Zügel anziehen und nicht Wohlfühlatmosphäre erzeugen. Die von den Kultusbehörden propagierte Selbsttätigkeit der Schüler befördert bei denen eine Form des Selbstbewusstseins, die den ordentlichen Gang unserer Lektionen stört. Die Konzepte von Freiarbeit und Wochenplan rauben nur kostbare Lehrzeit. Dass gar diese Art Unterricht auf die künftige Rolle als mündige Bürger vorbereiten soll, ist ein vorgeschobenes Argument von Alt-68ern; fürs Lernen von Mündigkeit kann man schließlich in der Jahrgangsstufe 13 ein Projekt veranstalten.
Zuerst drängten sie, jeder in seinem Bundesland und Kanton, diskret bei ihren Dienstherren auf Besitzstandswahrung, um mit Wünschen nach Revision der eigenen Veranstaltungen in Ruhe gelassen zu werden. Als das misslang, gründeten sie den Pädagogenbund Philonostra.
Sie versprachen einander ein permanentes Maßnahmenbündel zur Rettung der Schule und verpflichteten sich, alle ihre Aktionen strikt geheim zu halten. Als neues Mitglied sollte nur aufgenommen werden, wer nachweisbar mindestens drei Mal in der Öffentlichkeit erklärt hatte, früher hätten die Schüler mehr gekonnt, und Schuld sei die Larifari-Pädagogik.
Monsignore L., Geschäftsführender Abt des Religionslehrerverbands und soziologisch vorgebildet, überzeugte seine Mitverschwörer in einem Grundsatzreferat: Große Wirkung wird nicht mit langen Erklärungen erzielt, sondern mit griffigen Slogans (siehe Clausen 1964, vgl. auch das Klassenmodell nach Engel, Blackwell und Kollat). Auf Vorschlag der deutschen Vertreter einigte man sich in der Osternacht 1994 auf das Schlagwort „Kuschelpädagogik“, während die Schweizer „Wohlfühlpädagogik“ beisteuerten. Die Verschwörer beschlossen: Jedes Mal, wenn eine Studie die Qualität unseres Schulwesens an den Pranger stellt, reagieren wir mit diesen beiden Termini in Publikationen aller Art.
Zum Abschluss unterschrieben sie lauter Selbstverpflichtungen: Jeder von uns muss mindestens dreimal jährlich vor Zeitungsredakteuren, Heimatvereinen, Elternverbänden, Wandergruppen, Jahreshauptversammlungen von Freiwilligen Feuerwehren, Stammtischen usw. usw. darlegen, dass heutige Schüler immer schlechter werden und die Reformpädagogik Schuld ist.
Danach gelangen die beiden größten Coups den Deutschen. Auf bisher nicht geklärte Weise zogen sie 1997 einen Redenschreiber des deutschen Bundespräsidenten auf ihre Seite, und der schmuggelte dem Staatsoberhaupt zwei töricht-polemische Sätze in eine Rede: „Es gibt keine Bildung ohne Anstrengung. Wer die Noten aus den Schulen verbannt, schafft Kuschelecken, aber keine Bildungseinrichtungen, die auf das neue Jahrtausend vorbereiten.“
Die Resonanz übertraf alle Hoffnungen, und fortan war Kuschel in Deutschland das meistgebrauchte Pfui-Wort der Bildung. Auch für die Hohe Schule des Zensierens war noch Unterstützung durch Allerhöchstdenselben abgefallen.
Danach gewannen die deutschen Konservatoren sogar noch ein Sprachrohr für den schweizerischen Begriff: den schleswig-holsteinischen Bauern und damals kommenden Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen. Der blaffte im Wahlkampf 2005 seine Gegner an: „Sie mit Ihrer Wohlfühlpädagogik!“ (womit er zugleich die Weltläufigkeit norddeutscher Bauern zu erkennen gab).
Innerhalb weniger Jahre gelang es dem energisch-geheimen Wirken der Philonostra, in der öffentlichen Meinung ihrer beiden Staaten eine Verurteilung von Reformpädagogik zu bewirken und bei sämtlichen Bildungsbehörden Deutschlands und der Schweiz eine Abkehr von reformfreundlichen Haltungen herbeizuführen. Von ihren Lehrern verlangen die nun wieder, die überkommenen Tugenden stramm durchzusetzen.
Während die Geheimbündler in der Osternacht 2008 ihre beiden Nationalhymnen sangen, bekundete der „Dr. Krikelkrakel, Ostd.“ mit vor Rührung zitternder Hand in Grüezis Gästebuch den Vereinszweck für erreicht und ergo den Verein für aufgelöst.
Seither sind in Apothekenzeitung, Müsli-Blättchen, WELT und der Frankfurter Allgemeinen eingeschmuggelte Zitate der genannten Art nicht mehr zu finden.