Triebbefriedigung in der pädagogischen Tundra (hinderliche Statistiken)

Neben den Daten zur Unterrichtsverteilung können künftig 
auch die Klassendaten (Belege KLD 321 bzw. KLD 322) 
auf Disketten übermittelt werden... Schulen, 
die das Stundenplanprog-ramm STUFAS vom LDS bezogen haben, 
werden bezüglich der Daten des Belegs UVD 221 oder UVD 222 
unmittelbar und rechtzeitig durch das LDS informiert.

(RdErl. KM NRW vom 16. 3.1989, GABl. NW S. 150, BASS 1989 10-41 Nr. 2)


Jahrtausendelang musste der Mensch, um überleben zu können, als Jäger und Sammler durch die Tundra streifen. So ein evolutionärer Trieb vergeht nicht in ein paar Jahrhunderten. Was für halbnackte Neandertaler das Sammeln von Kastanien und Heidelbeeren war, sind für Jeans tragende Informationstechniker unserer Zeit Daten. Kürzlich schrieb meine Nordsee-Zeitung, mehrere Bundesländer planten, jedes schulpflichtige Kind nach x persönlichen Merkmalen rasteratig mit Computerhilfe zu erfassen. Wenn ich das richtig verstanden habe: jedes einzelne. Landesweit. Weil der Sammler Trieb heute nur wenig schwächer ist als einst in der Wildnis, dürfte auf Dauer offener Widerstand zwecklos sein. Die können nicht anders, die müssen sammeln.

Schon zu meiner Zeit war ihrem Treiben nur mit verständnisvollem Abfedern zu begegnen.

Zum Beispiel begehrte alle Jahre wieder „der RP“ zu wissen, wie viele Schüler der vierten Jahrgangsstufe im Übergangsverfahren als „geeignet“, „vielleicht geeignet“ oder „nicht geeignet“ beurteilt worden seien. (RP steht für Regierungspräsident, meint aber nicht unbedingt Höchstdenselben, sondern irgend ein Glied in der Hierarchie zwischen Bleistiftanspitzer und S. M.)

Bettina V. war eine der beiden Sekretärinnen in unserem Schulamt. Die hatte die Zahlen zu ermitteln. Eine schriftliche Abfrage bei den Schulen war uns vom  KM (steht für Kultusminister, meint aber nicht unbedingt ... usw.) „aus gegebenem Anlass“ untersagt worden, weil die Schulen nicht mit überflüssigem Papierkram belastet werden sollten. Also musste Bettina V. die Zahlen unserer 63 Grundschulen telefonisch sammeln. Das dauerte.

Da änderten wir das Verfahren. Sie ermittelte die durchschnittlichen Prozentanteile aus den Vorjahren für den Bereich jedes Schulträgers, und wir schätzten anhand des Mittelwertes unsere aktuellen Zahlen. Nach einer Stunde war die Meldung fertig.

Im siebten Jahr kam Bettina V. eines Tages verlegen lächelnd an meinen Schreibtisch und beichtete: Sie hatte im letzten Jahr die Großstadt Witten vergessen. In unserer Statistik hatte es einen unerklärlichen Einbruch um viele hundert Kinder gegeben. Niemand außer Bettina hatte es gemerkt, denn niemand hatte sich für die Zahlen interessiert. Diese Geschichte ist wahr aber verjährt.

Diese auch: Kollege Th., bekannt für seine schonungslose Gewissenhaftigkeit, erschien eines Nachmittags aufgelöst in Erwins Büro: „Du, Erwin, der RP hat gerade angerufen. Wir müssen bis morgen zehn Uhr melden, wie viele türkische Seiteneinsteiger kurdischen Volkstums in Typ B von Klasse 10 sitzen. Jetzt ist es halb fünf. Was machen wir bloß?”Kollege Erwin stutzte kurz, dann strahlte er: „Hast du ein Glück! Zufällig hab' ich da heute Morgen einschlägige Informationen bekommen: Es sind – Augenblick mal – 17.”  „Donnerwetter", sagte Th. und konnte sein Glück kaum fassen.

Natürlich hatte Erwin überhaupt nichts ermittelt. Nach einem Unterrichtsbesuch in einer Klasse 10 kannte er zufällig die für deren Schule geltende Zahl. Die hatte er hochgeraten. Seither hießen Verfahren dieser und ähnlicher Art in unserem Schulamt EAV: Erwins Annäherungsverfahren.

Am stärksten war der Trieb bei den berufsmäßigen Sammlern im Landesamt für Statistik ausgeprägt. Zu meiner Zeit machten sie das mit Hilfe von tischtuchgroßen Überwachungstabellen. Vermutlich haben sie das Verfahren längst verfeinert und vor allem ausgeweitet. Damals musste zum Beispiel jede Schule in der Unterrichtsverteilungsdatei UVD für jedes Fach nachweisen, welche Lehrerin (alle Daten über sie in der LID) in welcher Klasse (alle Daten über die in der KLD) wie oft pro Woche und wann 45 Minuten lang unterrichtete.

Weil es aber unter den Grundschulen im Lande unverhältnismäßig viele Reformschulen gab, die nach den Richtlinien desselben Kultusministers arbeiteten und Kindern zum Beispiel nicht mehr wie zu Väter Zeiten nach einem starren Plan in 45-Minuten-Portionen jeweils eine Einheit Fachunterricht verabreichten, fand sich in der UVD die größte Ansammlung ungereimter Lehrerpoesie im Lande.
Zu meinen Dienstobliegenheiten gehörte es, diese Poesie zu kontrollieren. Nachdem wir auf unsere kritischen Hinweise (§ 58 Landesbeamtengesetz: Der Beamte soll seine Vorgesetzten beraten) von unseren Oberen eine pampige Antwort bekommen hatten, habe ich alles brav unterschrieben. Der Datenwust schadete ja niemandem, und die Sammler waren so beschäftigt, dass ihnen für größere Störungen der pädagogischen Arbeit keine Zeit blieb.

Heute, schreibt also meine Nordsee-Zeitung, streifen die Horden immer noch durch die Schul-Tundra. Beim ersten Versuch, von jedem Kind x persönliche Merkmale zu sammeln, wurden sie anscheinend abgeblockt. Aber die kommen wieder. Dann wird vermutlich wieder nur nachsichtiges Abfedern helfen.