Goethe statt Erlass (unterschiedliche Lehrer)

Eines schickt sich nicht für alle! 
Sehe jeder, wie er's treibe,
Sehe jeder, wo er bleibe,
Und wer steht, dass er nicht falle! 
(Johann Wolfgang von Goethe)


In meinem Leben hatte ich fünf Pädagogen als Schulräte. Ehre ihrem Andenken. Der sechste war ein Verwaltungsbeamter. Der maß die Qualität der Lehrerinnen und Lehrer seines Bezirks besonders daran, wie eng sie sich an ihre Stoffverteilungspläne hielten. War da für den Monat Oktober in der Abteilung Musik „Herbstlieder” angegeben, so reagierte er ungnädig, denn Seine Merkwürden wünschten zu lesen, für welche Woche des Oktobers welches Herbstlied vorgesehen war, und kam er im nächsten Frühjahr, so verglich er Stoffverteilungsplan und Lehrbericht, um zu kontrollieren, ob das vorgesehene Herbstlied pünktlich erledigt worden war.

Der Mann verdient Schelte. Aber nicht dafür, dass er solche Stoffverteilungspläne und solchen bürokratischen Umgang damit für richtig hielt. Vermutlich war er einst als Lehrer darauf angewiesen gewesen, für sich selbst solche Korsettstangen zusammenzulöten, um im Chaos der täglich auf ihn einstürmenden Anforderungen nicht unterzugehen. Schelte verdient er nur dafür, dass er meinte, alle anderen Lehrer müssten sich auf seine Weise im Schulalltag zurechtfinden.

Die Kollegin Elke Bernhard von der Grundschule Haspetal im Ennepe-Ruhr-Kreis ging bei ihrem Leselehrgang von Kindernamen aus. Jeden Laut und sein Zeichen ließ sie aus einem Namen der Klasse gewinnen. Das verstieß zwangsläufig gegen lauter Grundsätze des anerkannten Lesenlehrens. Als ich sie im März besuchte, hatten alle (!) ihre Kinder das Prinzip der Lautschrift begriffen und konnten mindestens synthetisierend lesen. Nur das zählt. (Zum Glück war ich nicht schon im Herbst gekommen; da hätte ich sie wohl wegen ihrer Methode belatschert.)

Zu meiner Zeit gab es besonders unter Hochschullehrern heftige Diskussionen, wie rigoros striktes Lehren zu sein habe. Für manche Disputanten war unvorstellbar, dass Unterricht erfolgreich sein kann, der nicht fünfminutenweise geplant wurde. Umgekehrt planten andere Inhalte statt Lernen und konnten sich nicht vorstellen, so konsequent nach kleinschrittigem Plan vorzugehen. Warum können wir uns nicht einigen, dass alle zu akzeptieren sind, wenn sie Erfolg haben, weil sie aus ihren Möglichkeiten das Beste machten?

Man kann nicht sagen: Kinder sind unterschiedlich, und gleichzeitig so tun, als seien Lehrer alle gleich. Was denn sonst: Die sind auch unterschiedlich! Jeder ist ja gebunden durch seine Lehr- und Lernbiographie, durch den gegenwärtigen Stand seiner Überzeugungen und Meinungen, jede durch ihr Temperament, ihre Einsichtsfähigkeit, ihre Erfahrungen, gar durch vergangene und gegenwärtige Lebensumstände. Und es ist auch ein Unterschied, ob ich es mit einer trägen oder einer vor Aktionslust berstenden Klasse zu tun habe, mit einer sanften oder einer wilden ...

Was zu meiner Zeit vernünftig war, gilt wohl heute erst recht: Da Kindheit sich rasant verändert, Kinder immer schwieriger werden, Klassen größer und die Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen schlechter und der Druck auf sie höher, kann es noch weniger als vorher ein DIN-Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern geben. Die täglichen Forderungen an sie sind so zahlreich, so unterschiedlich, so miteinander verfilzt: so schwierig, dass die nur bewältigen kann, wer sie auf die ihr/ihm gemäße Weise angeht.

Da hat kein Erlass etwas vorzuschreiben. Da hat jede Verfügung ihr Recht verloren, und praxisferne Theorieerfinder sollen sich da raushalten. Da gilt nur Goethe: Eines schickt sich nicht für alle.

Also macht, wie ihr’s wollt – nur über eins gibt’s keine Diskussion: Am Ende müssen wir uns an den Ergebnissen unserer Arbeit messen lassen. Denn: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ (Helmut Kohl)

in  Heft 107 (Februar 2008) von „also“ (GEW-Stadtverband Wuppertal)