Fürchtet euch nicht! (Die Angst der Lehrer)

(Botschaft der Engel an bangbüxige Hirten, Lukas 2, Vers 10)


Wir Lehrer, die wir’s von Berufs wegen genau zu nehmen pflegen, müssen bei Luthers Bibelübersetzung den Finger heben: Handelt es sich bei den Hirten wirklich um Furcht, also um Reaktion auf eine bestimmte Bedrohung, oder eher um Angst, wie die Reaktion auf eine unbestimmte Bedrohung heißt?

Weil Schule nicht funktioniert, wenn alle Vorschriften genauestens befolgt werden, gehört die Unterscheidung von Angst undFurcht zum Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehrern. Eine Hauptschul-Rektorin – um also ein Beispiel aus dem Bildungssektor zu nehmen - hat vor dem Besuch der Feuerwehr die Furcht (bestimmte Bedrohung), es werde herauskommen, dass an den Enden der Schulflure Tische und Stühle stehen, die nur zum Zwecke der Revision weggeräumt wurden. Hingegen muss sie beim Besuch des ITlers aus dem Landesamt für Datenverarbeitung auf die Aufdeckung der einen oder anderen ihrer Machenschaften in der Statistik gefasst sein - aber welcher? Und mit welchen Folgen? Klarer Fall: unbestimmte Bedrohung, also Angst.

Schreiber dieses kennt beides: Angst und Furcht. Einst fand er mittags unerwartet eine Vorladung in seiner Post. Herr Tenter, Leiter der Schulabteilung bei der Regierung, lud ihn zu einem Dienstgespräch in die Landeshauptstadt. „Dienstreise wird angeordnet.“ Thema: die jüngste Nummer der Schulzeitung. Der Vorgeladene grübelte. Steckte vielleicht der Schulrat dahinter? Über den hatte er vor ein paar Wochen wegen der Versetzung einer Lehrerin Unfreundliches geschrieben. Wenn es so war, handelte es sich um eine bestimmte Drohung, denn den Schulrat kannte er zur Genüge. Also bloß Furcht
Verhielt es sich so, war aber nicht klar, wessen genau er beschuldigt wurde und 
wie der Abteilungsdirektor reagieren würde. Oder gab es da noch was? In diesem Falle handelte es sich also um ein Gefühl der Angst (unbestimmte Bedrohung). Die wurde dadurch verstärkt, dass der Chef selbst den kleinen Schulleiter greifen wollte und der Termin fürs Abbürsten zum Zwecke des vorherigen Einweichens erst für vier Wochen später angesetzt war.

Der Delinquent versuchte, durch wiederholtes Denken an den Personalrat und seinen GEW-Rechtsschutz die Angst in Furcht zu transformieren, aber seine nachlassende Schlafqualität zeigte die Vergeblichkeit dieses Bemühens: Angst blieb Angst. 
Nachdem der Autor solchermaßen seine gedankliche Durchdringung des Problemkreises ebenso nachgewiesen hat wie Erfahrungen in der Sache, erlaubt er sich im Folgenden, vier kleine Reden gegen Furcht, Angst und ihre Erzeuger zu halten.

Erstens: Wenn’s vernünftig ist: nachgeben 
Wem eine Auseinandersetzung mit Vätern, Müttern, Sachbearbeitern, Feuerwehr, Stiefvätern, Putzfrauen, Vorgesetzten, Stiefmüttern, Gesundheitsamt, Großeltern, Hausmeistern, Ordnungsamtsmitarbeitern, Schulausschussmitgliedern und anderen Gliedern droht, sollte um seiner Gesundheit willen abwägen, ob die Sache wirklich wichtig ist. Ist sie es, muss der Kampf ausgefochten werden. Wenn nicht, sollte man den Kohlhaas im Busen lassen und nachgeben. Der Widerpart triumphiert? Soll er doch, der Torfkopp! Immer noch besser, als sich selbst um die Nachtruhe zu bringen, Blutdruck und Cholesterinspiegel hochzutreiben und den Körper mit Adrenalin vollzupumpen.

Zweitens: Nichts in die Personalakte hineingeheimnissen
Unter braven Lehrern breitet sich Unruhe aus, wird von der Gefahr gesprochen, es könnte etwas „zur Personalakte genommen” werden. Manche führen sich auf, als handele es sich um das Buch des Lebens, bei dessen Durchsicht der Erzengel dermaleinst den Daumen nach unten recken könnte. Eine Personalakte ist eine Akte fürs Personal, also für dich und mich. Auch vom Leitenden Mineralienrat gibt es eine. Es handelt sich um Erzeugnisse der Firmen ELBA, LEITZ, SOENNECKEN und andere, im Handel frei erhältlich. Darinnen werden alle Vorgänge aufbewahrt, die unsereinen betreffen: Urlaubsanträge, Krankmeldungen, Berechnungen des Besoldungsdienstalters, Berichte über Unterrichtsbesuche, „Dienstliche Beurteilungen“, Geburtsanzeigen, Versetzungen, uralte Lichtbilder („der ist aber auch alt geworden!"), Fortbildungsbescheinigungen und so fort.

Drittens: Keine Angst vor dem Verwaltungsgericht haben
Der Verfasser war zwölf Jahre Schulaufsichtsbeamter. In dieser Zeit gab es in seinem Ampte (fünf Aufsichtsbezirke) keinen einzigen Fall vor dem Verwaltungsgericht. Aber jeder Lehrer kennt jemand, der hat von einem gehört, der mal einen gekannt haben soll, der mit seinem Zensurenbüchlein eine Note vor dem Verwaltungsgericht belegen sollte. Jede Region hat ihren Gerichts-Yeti, dessen Fußspuren angeblich im ewigen Eis der Schulaufsicht gesichtet wurden. Und der wichtigtuerische Schnack, als Lehrer stehe man immer mit einem Bein im Gefängnis, gilt nur für Pädophile, die da auch reingehören – mit beiden Beinen. 
Für den Eins-zu-hunderttausend-Fall, dass man doch mal vor Gericht muss, hat man schließlich Rechtsschutz. Und für den Eins-zu-fünfhunderttausend-Fall, dass man (natürlich ungerechterweise) dabei auf der Strecke bleibt, gibt es immer noch den Trost des Juristen-Sinnspruchs, vor Gericht kriege man nicht Recht, sondern ein Urteil.

Viertens: Keine Angst vor Dienstaufsichtsbeschwerden haben
Über die wird in Lehrerkreisen geraunt, als handele es sich um eine Vorstufe zur Exekution. Dabei ist es schlicht eine Beschwerde (von Vätern, Müttern, Sachbearbeitern, Feuerwehr...) über eine Lehrerin oder einen Lehrer. Und sie ist vernünftigerweise an den vorgesetzten Menschen gerichtet, der die „Dienstaufsicht” ausübt. Das ist der „Dienstvorgesetzte“. Was ist daran Besonderes? Beschwerden sind Bürgerrecht. Und Lehrer, die sich so verhalten, dass kein Vater, keine Mutter ... sich jemals über sie beschwert, sollten sich sowieso mal fragen, was sie falsch machen.
Dienstaufsichtsbeschwerden sind weder an eine Frist noch an eine Form gebunden. Weil kluge Vorgesetzte ihre Stallgenossen ungern vor Stallfremden in die Pfanne hauen, gelten unter Juristen für Dienstaufsichtsbeschwerden die „drei f: formlos, fristlos, fruchtlos”. 
Was nun die Hirten bei den Hürden angeht, so handelte es sich anfangs eindeutig nicht um Furcht, sondern um die Reaktion auf eine unbestimmte Bedrohung, also Angst. Erst bei länger währendem Engelgesang sublimierte sich die Angst zu der erträglicheren Furcht.

So hat es auch mit o.g. Rektorin seine Bewandtnis: Sollte sie ihre Manipulationen fortsetzen (was natürlich streng abzulehnen ist), würde sich die schlafstörende Angst zu bloß noch amtstypischer Furcht sublimieren. Nur auf ein freudiges Aha-Erlebnis, wie es den Hirten schließlich im Stall zuteil wurde, sollte sie nicht hoffen.