Lernen auf der Erde (Wie wir Schule halten)

Lernen auf der Erde
(Aus einem Lexikon der Marsmännlein) 

Wunderlich wie ein Erdbewohner
(Redensart bei den Marsleuten)


Jedes Junge der von uns besuchten Erdbewohner (>Kind) soll ausgiebig auf sein Leben in der Gesellschaft der ausgewachsenen Exemplare (>Erwachsene) vorbereitet werden. Die haben zu diesem Zweck spezielle Einrichtungen erfunden (>Schulen), in denen besonders ausgebildete Menschen (>Lehrer) mit der Vorbereitung der >Schüler beauftragt sind.

Die Zwangseinweisung der Jungen erfolgt in der Regel nach der sechsten Erdumlaufbahn (>Schulpflicht). Durch sie werden die Kinder zu >Schülern und verlieren zentrale Eigenschaften des Kindseins. 


Lehren und lernen

Oberstes Ziel von Schule ist >Lernen. Das ist zwar für jedes Erden-Junge ein natürliches Bedürfnis. Die Ausgewachsenen meinen jedoch, es tauge wenig, weil es nicht ihrer Systematik folgt; auch berücksichtige es viele Gegenstände nicht, die bei ihnen für wichtig gelten. Deshalb erkennen sie Lernen nur an, wenn es eine Folge ihres >Lehrens ist.

Lernen die Kinder, was sie gelehrt wurden, spricht man von >Erfolg. Erfolge führen die Erzeuger auf sorgfältige Genweitergabe und die Lehrer auf ihre Lehrkunst zurück. Für Misserfolge gelten bei den Erzeugern die Lehrer und bei den Lehrern die Erzeuger als verantwortlich. 

 

Ordnung

Wie diese Einrichtungen organisiert sind, hängt nicht nur von der praktischen Vernunft und den Bedürfnissen der Erdbewohner ab, sondern auch von mannigfach verzerrten Denksystemen (>Ideologie). Dazu gehört offenbar auch das mit Eifer betriebene Sortieren der Jungen in viele unterschiedliche Arten von Schule.

In allen diesen Einrichtungen gilt die gleiche geistige Ordnung: Erst legen die Ausgewachsenen fest, was im Verhalten von Lehrern und Schülern als richtig gelten soll. Danach erklären sie alles, was von den Normen abweicht, für >Fehler. Fehler verfolgen sie mit großem Eifer. Bei ihren Schülern zählen sie die sogar. Deshalb herrscht bei allen Menschen in der Schule Angst vor Fehlern.


Schulreform

Alle Jungen sollen in den Schulen gerecht behandelt werden und zugleich Erfolg haben. Wie das zu erreichen sei, wird in vielen Konferenzen beraten. Weil aber zugleich die Möglichkeiten des Sortierens der Schüler ständig verfeinert werden, wird das Ziel nicht erreicht. Diesem Misslingen werden wiederum Konferenzen gewidmet. Da auch diese regelmäßig in neue Ungerechtigkeiten münden, werden abermals Konferenzen zum Problem mangelnder Gerechtigkeit abgehalten, und der Prozess beginnt von vorn. 

Benachteiligte Junge werden in den Schulen auf mannigfache Weise weiter benachteiligt. Das beklagen die Alten. Sie beschließen von Zeit zu Zeit Änderungen, welche die Benachteiligung nicht ändern. 

Etwa alle zwanzig bis dreißig Erdumläufe, wenn Bewohner anderer Teile der Erdoberfläche über die von uns besuchten spotten, geben die ihren Schulen einige neue Regeln, beschuldigen die Lehrer und erhöhen den Druck auf sie. Diese wiederum geben den Druck an die Schüler weiter. Sodann fahren alle fort wie bisher.

Die Gesamtheit dieser Erscheinungen wird unter dem Sammelbegriff <Schulreform zusammengefasst. 


Lehrer

Die Lehrer sollen den Gehorsam gegen Vorschriften und die Erfüllung aller vorgegebenen Pläne über eigene Einsicht und Bedürfnisse der Kinder stellen. Damit sie das auch tun, werden sie mit Tausenden von Vorschriften aller Art diszipliniert (>Verordnung >Erlass >Verfügung). Die Lehrer gehorchen und beklagen, dass sie es müssen.

Nach ihrer Selbsteinschätzung sind Lehrer eine extrem reglementierte Menschengruppe. Sie verweisen darauf, dass schon geringe Unbotmäßigkeiten von ihren Herren aufgeschrieben werden (>Personalakte). Obwohl die Obrigkeit fast allen vertraglich zugesichert hat, ihnen lebenslang ihre Arbeit zu lassen (>Beamtenverhältnis), erzeugt allein die Vorstellung des Aufgeschriebenwerdens unter ihnen Angst und Schrecken.

Am Ende ihrer Lebensarbeit gelten ihre angesammelten Erfahrungen als unbrauchbar. 


Lehrplan, Fach und „Stunde"

Einige Erwachsene haben sich ausgedacht, was die Jungen in einem bestimmten Alter zu lernen imstande sind. Dank dieser Umstände können sie sakrale Objekte (>Lehrplan) schaffen, die festlegen, in welchem Alter die Kinder was zu lernen haben.

Gelernt wird nicht in den auf der Erde natürlich gegebenen und wahrnehmbaren Zusammenhängen, sondern in künstlich geschaffenen Teilbereichen, die man >Fächer nennt und die man zuvor mit großem Aufwand gedanklich voneinander getrennt hat.

Die Einheit für die Lehrdauer jedes >Fachs heißt „Stunde" und beträgt 1/32 der Achsrotationszeit der Erde. Dieser Brauch gilt für Kinder jeder Art und Größe und für Erwachsene gleichermaßen, wird nicht begründet und scheint aus einem frühen Abschnitt der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu stammen (>Evolution).

Wie viele „Stunden" jedes Fach gelehrt wird, wechselt von Zeit zu Zeit und wird in Geheimzirkeln beschlossen.


Schüler

Die von uns besuchten Erdbewohner beteuern einander immer wieder, nichts sei ihnen wichtiger als ihre Jungen. In Wahrheit treiben sie zum Beispiel für ihre eigene Fortbewegung und für ihre Tötungssysteme einen viel größeren Aufwand.

Um die Aufwendungen für ihren Nachwuchs gering zu halten, muss jeder Lehrer möglichst viele Junge auf einmal unterweisen, und man zwingt bis zu 35 von denen zu Belehrungshaufen (>Klassen) zusammen. 

Aus Gründen der Ökonomie werden alle Kinder eines Haufens dasselbe zugleich gelehrt. Das sei, meint man, nur mit Haufen möglich, die in ihrem Lernvermögen einigermaßen ähnlich sind. Der Einfachheit halber nimmt man an, gleiches Lebensalter bedeute auch gleiches Lernvermögen. Als gleiches Lebensalter gilt die Entstehungszeit innerhalb ein und derselben Sonnenumlaufbahn.

Nach diesem Kriterium werden Kinder in die Haufen sortiert (>Jahrgangsklasse). Da aber gleiches Lebensalter keineswegs gleiches Lernvermögen bedeutet, sind einige der Jungen dauernd unterfordert. Das wird hingenommen, solange sie sich ruhig verhalten. Andere sind dauernd überfordert oder unwillig. Die werden jeweils an einem bestimmten Punkt der Erdumlaufbahn zu jüngeren aussortiert, damit sie den ordnungsgemäßen Gang der Belehrung nicht stören (>Sitzenbleiben).


Bewertung und Disziplinierung

Die Erfolge des Lernens werden nicht mit Hilfe der menschlichen Sprache eingeschätzt, sondern mit sechs Mengen von Einheiten ein und derselben Art. Das begründen die Erdbewohner mit Argumenten aus einem ihrer verzerrten Denksysteme (>Ideologie). Die Jungen haben an einem so organisierten Lernen von Natur aus immer weniger Interesse, je länger es dauert. Das halten die Erwachsenen für Faulheit und ein angeborenes Bedürfnis nach Dummbleiben. Darum zwingen sie ihre Abkömmlinge zum dauerhaften Besuch ihrer Einrichtungen (s.o.). Damit die Schüler sich während des Belehrungsvorganges den Wünschen der Lehrer fügen, setzen diese besondere Maßnahmen ein (>Motivierung >Repression).
Dennoch gibt es Junge, die mit diesen Maßnahmen nicht gefügig gemacht werden können. Diese werden mit >"Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen" diszipliniert. Geben sie ihren Widerstand immer noch nicht auf, gelten sie als >verhaltensgestört, müssen nach besonderen Riten von Schamanen behandelt werden (>Psychologie) oder werden in eigene Schulen aussortiert.

Nach zehn bis 13 Erdumlaufzeiten werden die nunmehr herangewachsenen Jungen unabhängig von den erreichten Lehr-Erfolgen aus der Einrichtung entlassen. Sie gelten nun als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, sollen sich in die Gesellschaft eingliedern und deren Verbesserung bewirken. Wann sie gelernt haben, das zu tun, konnte bisher nicht ermittelt werden; in den „Fächern" der Schule kommt ein solches Lernen jedenfalls nicht vor.


In: Archiv der Zukunft. Netzwerk
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