Legasthenie-Freunde (Die so genannte Legasthenie)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Samstag, 06. Oktober 2007 11:37
Eklat bei den Legasthenie-Freunden
„Wenn also ein intelligentes Kind regelmäßig die Schule besucht,
nicht mehrsprachig aufwächst, keine Hör- oder Sehschwierigkeiten hat
und sich trotzdem auffallend schwer tut beim Lesen und Schreiben,
spricht man von einer Legasthenie.“
Eric Hofstiepel in MEDICAL TRIBUNE, Mai 2007
Die diesjährige Jubelfeier der Gesellschaft für Freunde der Legasthenie (GFL) eröffnete der Vorsitzende Professor Kleinpusch, Direktor einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Vor dreißig, vierzig Jahren“, sagte er, „diskutierten wir die Ursachen der Legasthenie: phonologische Defizite oder visuelle Gliederungsschwäche oder allgemein mangelnde Wahrnehmungssensibilität oder sprachliche Entwicklungsverzögerung oder neurologische Ursachen oder Sprachentwicklungsverzögerung oder genetische Wurzeln oder die häusliche Lesesozialisation oder, oder, oder.
Als wir mit der Ursachenforschung nicht weiterkamen, entschlossen wir uns zu einer wahrhaft kopernikanischen Wende. Wir sagten: Nicht zuerst um die Ursachen geht es uns, sondern Kindern mit Legasthenie muss geholfen werden, unabhängig von den Ursachen!“ (Beifall) „Seither haben wir Millionen mit unserem wissenschaftlich einzigartigen Ausschlussverfahren geholfen: Wenn ein intelligentes Kind aus einem Deutsch sprechenden Elternhaus, das gut hört und sieht und regelmäßig die Schule besucht, sich beim Lesen und Schreiben schwertut, dann leidet es an Legasthenie.“ (Beifall) „In den letzten Jahren aber konnten wir uns vermehrt wieder den Ursachen zuwenden. Unser Mitglied Professor Doktor Kröps hat für die Entdeckung des Legasthenie-Gens CKICKY2 (aus einer Region von Chromoson 7,5) das Bundesverdienstkreuz allererster Klasse und den Ehrenschild des Verbandes erhalten.
Professor Bömmel, vielfach promovierter Psychologe und Direktor einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, auch er unser Mitglied, hat das nach ihm benannte Bakterium Spintiscribae Boemmeli als einen der Verursacher entdeckt und mit Hilfe des Rasterelektronenmikroskops nachgewiesen.
Unser Diplom-Psychologe Dr. Heinrich-Otto Pixel, Leiter einer Legasthenie-Beratungspraxis mit 17 Betten, hat für seine bahnbrechende Erkenntnis ‚Die Probleme entstehen, weil keine effektive Vernetzung zwischen Sprech- und Schriftwörtern gelingt’ den angesehenen Banalité -Preis der Freien und Reichsstadt Schilda erhalten.“
Die so Genannten saßen sämtlich in der ersten Reihe, erhoben sich und verbeugten sich vor der applaudierenden Versammlung.
Endlich trat Professor Doktor Kax, Direktor einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie , für seinen Vortrag ans Mikrophon. Mit reichem Bildmaterial aus dem Rasterelektronenmikroskop präsentierte er die Scribeleglaus als Auslöserin der Legasthenie. Sie sei es, die alle die verschiedenen Defizite erst aktiviere. Millionen Menschen lebten unbeeinträchtigt mit visueller Gliederungsschwäche, phonologischen Defiziten, genetischen Besonderheiten usw., usw. Erst dieses winzige Tierchen wecke durch sein Wühlen in der temporoparietalen Region des Gehirns das schlummernde Unheil im Kopfe.
Er sei ihm auf die Spur gekommen, als seinen Patienten beim therapeutischen Gruppen-Reiten schwefelgelbe Wölkchen im Trab-Rhythmus aus den Ohren quollen.

Scribeleglaus
nach Kax,
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Mitten in den aufbrandenden Beifall zeigte auf dem Podium Professor Doktor Minnigens, Direktor einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit dem Finger an die Stirn und hieß seinen Kollegen eine „Pappnase“. Der vorgebliche Erreger sei eine plump gefälschte Variation der berühmten Loriotschen Steinlaus. Von der sei bekannt, dass sie bisher nicht einmal für die Zersetzung von Nieren- und Blasensteinen tauge, in menschlichen Hirnen aber, so genannten Betonköpfen, noch nie nachgewiesen worden sei.
Tumult entstand. „Meine Damen und Herren“, sprach der Versammlungsleiter mit einem Blick auf die Uhr, „in fünf Minuten wird das Buffet eröffnet. Als Fachleute sind wir es uns aber selbst schuldig, doch noch einer Vertreterin der Schule das Wort zu geben.“
Eine gemeine Grundschullehrerin hatte die Lernbedingungen von Kindern ermittelt und in einer Formel drei Faktoren zueinander in Beziehung gesetzt: Spezialausbildung der Lehrer, Klassenfrequenz und Unterrichtszeit. „Einem preußischen Erstklasslehrer“, sagte sie, „standen im vorvorigen Jahrhundert zwölf Wochenstunden für den Schreib-Leseunterricht zur Verfügung.“
Die ersten Zuhörer strebten zum Buffet.
„Heute ist es nicht mal die Hälfte. In diesen wenigen „Stunden“ unterrichten wir dreißig und mehr Schulanfänger von oft extrem schwieriger Art. Da müssen ‚Legastheniker’ entstehen!“
In diesem Augenblick flog ein ungebundenes Exemplar der Vereinssatzung als Wurfgeschoss auf die Bühne.
„Zu allem Überfluss haben heutige Lehrer nur in seltenen Fällen eine spezielle Ausbildung für den Schreib-Lese-Unterricht genossen. Die merken beim besten Willen nicht, wenn Legasthenie entsteht.“
Zwei beherzte Kinderärzte, ein praktischer Arzt, ein Psychotherapeut und ein AOK-Bezirksleiter waren nötig, den Sturmangriff mehrerer Psychologen abzuwehren.
Die Lehrerin musste ins Mikrophon schreien: „Diese drei Faktoren: Große Klassenfrequenz, viel zu geringe Wochenstundenzahl und fehlende Spezialausbildung führen zwangsläufig –“
Der Rest ging im Lärm unter. Eine Gruppe von Schulpsychologen verließ unter Schmährufen den Raum. Ein offenbar betrunkener Sonderschullehrer grölte ein angebliches Stoßgebet von Schulpsychologen: „Unsern täglichen Legastheniker gib uns heute!“
Der Vorsitzende entriss der Lehrerin das Mikrophon. „Die Legasthenie“, rief er in den kochenden Saal, „ist wie alle kulturellen Errungenschaften eines Volkes sein unverlierbarer Besitz für alle Zeit! Wer von uns wollte je wieder darauf verzichten, jene Erregung zu spüren, die den Forscher überfällt, wenn er über die möglichen Zusammenhänge von gekreuzter Hand-Augen-Dominanz und Legasthenie nachsinnt! Was ist unsere weltberühmte Raum-Lage-Labilität ohne Legasthenie! Wo kommen wir denn hin, wenn für visuelle Wahrnehmungsschwäche nur noch Optiker zuständig sind! Niemand kann uns die geniale Erfindung der kongenitalen Legasthenie rauben! Schon mal gar nicht eine Lehrerin!“
Zwischenruf: „Das Buffet!“
Die Lehrerin nahm das Mikrophon aus den zitternden Händen des Vorsitzenden und sprach: „Ich kenne erfahrene Kolleginnen in kleinen Klassen, die die Stundentafel missachten. Die haben praktisch keine Legastheniker.“
„Wer Legastheniker ist, entscheiden wir!“, kreischte eine Professorin.
Der Vorsitzende des Verbandes der Lehrerhasser e.V. dröhnte in den Saal: „Welche Rolle spielt denn nun wirklich die Schule bei der Entstehung von Legasthenie?“
Antwort aus dem Saal, gebellt: „Fragen Sie doch nicht so dumm! Die entsteht nicht! Die ist schon da!“
Ein Studienrat z. A., mit heller Stimme: „Wie lautet überhaupt Ihre Definition für Legasthenie?“
„Die alten Definitionen haben wir abgeschafft! Wir brauchen keine Definition. Wir haben doch die diagnostischen Leitlinien der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis!“
„Soll das heißen, Sie wissen nicht, was Legasthenie ist?“ „Die alte Definition von Maria Linder“, meldete sich die Lehrerin am Mikrophon, musste aber vor einer antiquarischen Angermaier-Ausgabe in Deckung gehen.
Neuerlicher Tumult. Kaum ebbte der ab, fuhr sie fort: „ Was ist das für eine Wissenschaft? Warum untersucht niemand die schulischen Verhältnisse?“ Hohngelächter: „Zum Untersuchen haben wir schließlich die Legastheniker!“
Zum letzten Mal gelang es der Lehrerin, einen Satz ins Mikrophon zu rufen: „Woher wissen Sie denn, dass es Legastheniker sind?“
„Sonst würden wir sie doch nicht untersuchen! Lassen Sie doch Ihre dummen Fragen!“
Eine Psychologin am Vorstandstisch rief mit sich überschlagender Stimme: „Die Legasthenie sitzt im Kopf! Das weiß doch jeder! Was haben denn die schulischen Verhältnisse mit Kinderköpfen zu tun?“
Mitten im Saal bildete sich ein Menschenknäuel. Rufe: „Notarzt!“ „Hilfe!“ Eine Psychologieprofessorin war in Ohnmacht gefallen. Getümmel. Schreie. Rauferei.
Eine barsche Stimme in der Saaltür rief: „Die Suppe ist kalt.“
Laut diskutierend versammelten sich die nicht lädierten Teilnehmer am kalt gewordenen Buffet. Ein bayerischer Ministerialrat beklagte übertriebene Rücksichtnahme auf Legastheniker, ein Kinderarzt verdammte den Genuss von Schweinefleisch und entriss der Lehrerin ihr Puddingschälchen, der Verband der ADS-Kinder verlangte die Aufnahme bei den Legastheniefreunden, Angestellte des Verbands der Schulbuchverlage e.V. verteilten eilends erstellte Flyer mit der Einladung für eine LRS-Sonderausstellung auf der nächsten Didacta, und am Ausgang verbeugte sich lächelnd der Vertreter der Buddhist Society: „Velzichten Sie bei Legasthenie-Tlaining nicht auf Meditation! Sie macht das Bewusstsein weitel!“