Glück gehabt! (Bilanz eines Lehrerlebens)

Eine private Bilanz am Ende eines Lehrerlebens

Mein Lehrerdasein habe ich genossen. Natürlich nicht jeden Tag, aber unterm Strich. Denn ich hatte Glück. Zuerst, als ich Lehrer in Tintrup war mit rund 70 Kindern der lippischen Dörfer Tintrup, Maspe und Freismissen. Ich hatte überwiegend die „Unterklasse“ mit den Jahrgängen 1 bis 4, Lore Althoff die „Oberklasse“ mit den Jahrgängen 5 bis 8. Als „Erster Lehrer“ einer der von Laien geschmähten „Zwergschulen“ war ich mein eigener König und tat, was ich für pädagogisch vernünftig hielt, zunehmend bestärkt von Erwin Schwartz’ Aufsätzen in Westermanns pädagogischen Beiträgen („Ist die Grundschule reformbedürftig?“).

Als dann Ende der sechziger Jahre die Volksschule geteilt und ich Rektor einer städtischen Grundschule wurde, hatte ich wieder Glück: Die Lehrerschaft ganzer Regionen nutzte nach und nach eine durch die gewaltige Umwälzung beförderte Aufbruchstimmung und reformierte zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte eine Schule von innen her: die neu entstandene Grundschule. Weit überwiegend waren es Frauen. Sie waren die Lehrerschule einfach Leid, die mit optimistischen Fanfarenklängen des Neubeginns auf dem Wege zu einer pädagogischen Karikatur war.

L und SS nach Modell

Alles Tun in der Schule, so verlangte es das Kultusministerium im Verein mit einer hoffärtigen Wissenschaft, sollte sein Licht von der Lehrerin erhalten. Die Kinder erreichten Lehrziele, in grobe und feine unterteilt; Gelerntes hieß Lehrerfolg und war auf gekonnt bedachte Lehrvoraussetzungen und souverän angewandte Lehrmethoden zurückzuführen, nicht zu vergessen die geeigneten Lehr mittel. Die Lehrerin war die Sonne, und die dreißig kleinen Planeten in ihrem Umfeld kreisten um sie und waren zu sehen nur, weil sie das Licht des Zentralgestirns reflektierten.

„Wissenschaftsorientiert“ sollte die Bestrahlung sein. Das meinte auch: Aus dem „geplanten Lehrerverhalten” sollte mit Hilfe mehrerer auf dem Markt feilgebotenen „Modelle“ das „erwartete Schülerverhalten” erwachsen. Kinder in dieser Schule kamen nur als Schüler vor, als Lehrobjekte also, in der decouvrierenden Kürzelsprache von Technokraten S genannt, Plural SS. Und am Schluss jeder Veranstaltung sollte standardmäßig die L ihren Lehrerfolg bei den SS ermitteln.

Sie aber blickten auf die wuselnde Kindermasse in ihrer Klasse und bedachten die wachsende Zahl der Mühseligen und Beladenen darin, deren „Lebensprobleme ständig ihre Lernprobleme überwältigten“ (Hartmut von Hentig): die einen Menschen brauchten, keine nach Modell handelnde „L“. Da wussten diese Frauen: So eine Lehrerin wollten sie nicht sein. Wollten nicht mit kleinlicher Reglementierung den Wahn pflegen, Kinder könnten ohne ihr penibel geplantes Lehren nicht lernen. Diese Schule mit ihnen selbst als der Großen Zampana im Bildungsprozess war nicht die ihre.

Konsequenterweise musste das Zentralgestirn jedes Mal handeln, wenn bei einem der kleinen Planeten die Rotation stockte oder das reflektierte Licht flackerte. Hakte es bei einem Kind in irgendeinem Bereich sollte stets die Lehrerin „eine möglichst genaue Feststellung der Schwierigkeiten und deren Ursachen“ treffen, „Diagnose“ genannt, und dann sei es „erforderlich: eine präzise Festlegung des Ziels der Fördermaßnahme, eine Auswahl entsprechender Hilfen und Wege“ zu finden. Das hieß dann „Therapie“. Dabei war „zu bedenken, dass Lernstörungen im kognitiven Bereich ihre Ursachen im Affektiv-Emotionalen oder im Psycho-Motorischen und Psycho-Hygienischen haben können und umgekehrt.“

Einzelnen Kindern zu helfen war eines der Motive ihrer Berufswahl gewesen; aber nun erkannten sie, dass sie so, wie es von ihnen erwartet wurde, nicht nur nicht arbeiten wollten, sondern auch nicht konnten.


Zum Donnerwetter: Auch sie selbst!

Und was taten sie? Immer mehr Kolleginnen und Kollegen folgten dem Motto einer lange vergangenen Lehrergeneration, formuliert 1912 von Hugo Gaudig, den die meisten nur dem Namen nach kannten: „Kein Hörsaal, sondern eine Werkstatt soll unsere Schulstube sein; eine Stätte, wo der Schüler sich Erkenntnis und Fertigkeit arbeitend erwirbt, nicht eine Stätte, wo ihm Wissen eingedrillt wird.“ Den Unterricht mit sich selbst im Zentrum schafften sie nicht ab; wie sollte das auch möglich sein? Aber sie ergänzten ihn. Sie gaben ihren Kindern Gelegenheit mitzubestimmen, was wann mit wem zu lernen sei. Besonders bei freiem Arbeiten und Unterricht nach Tages- und Wochenplänen halfen sie ihnen, über Selbsttätigkeit selbstständig zu werden und das Lernen zu lernen. 

Viele waren sich der demokratischen Dimension ihrer Arbeit bewusst. Was für eine politische Erziehung betreibt die Schule eigentlich?, fragten sie: Ringsum beginnt die Umwelt zu kollabieren, und wir lassen künftige Bürger erfahren , dass sie nur als Re agierende gewünscht sind und verwehren ihnen zu lernen, aus eigenem Entschluss etwas in die Hand zu nehmen.

„Die Eigengesetzlichkeit der Sachverhalte des Unterrichts“ und damit der „scietifische Charakter des Unterrichts“ sollte gewahrt werden. Die Folge war, dass die Klassenlehrerin einer vierten Klasse fast zwei Drittel des Unterrichts Fachlehrern überlassen sollte. An welcher Stelle in dieser Konstruktion waren denn für sie selbst ein paar Lichtstrahlen vorgesehen? Nirgendwo. Ihre Befindlichkeit spielte überhaupt keine Rolle. Dass Lehrerinnen und Lehrer bei ihrer außerordentlich belastenden Arbeit selber einen Ort der Zugehörigkeit und des Aufgehobenseins brauchen, Kinder, zu deren Beziehungsgeflecht sie gehören, hatten die Konstrukteure nicht gewusst. Sonnen haben keine Bedürfnisse. Die beziehen die Energie für ihr permanentes Strahlen aus den unerschöpflichen Reserven in ihnen selbst.

Da dachten diese Lehrerinnen nicht nur an die Kinder, sondern auch an sich selbst, denn wie ihre Kinder hatten auch sie, zum Donnerwetter!, ein Recht auf emotionale Geborgenheit in ihren Klassen. Stillschweigend setzten sie diese Art „gemäßigtes Klassenlehrersystem“ außer Kraft, und manche Schule musste die bunten Klötzchen in der Stundentafel im Lehrerzimmer vor Revisionen besichtigungstauglich stecken.

Weil sie nun nicht alle paar Stunden ihre Bezugsgruppe wechseln mussten, konnten sie aus Räumen mit militärischer Tischordnung Wohnzimmer für Kinder machen, Lese- und Sitzecken einrichten, obwohl Gesundheitsämter Kampagnen wegen Seuchengefahr anzettelten und manche Aufsichtsbehörde eilfertig dabei half. So gelang es ihnen immer öfter, in ihren Klassen eine „Atmosphäre froher Arbeit“ (Lotte Müller) zu gewährleisten.


Dürfen die das?

Neue Fachliteratur zu lesen wurde von ihnen erwartet. Sie lasen: „Hier zeigt sich ein Unterschied in den Kohärenzbedingungen von diachronen und deskriptiven Texten über gleiche Referenten ...“ Da stellten sie die Bücher zurück in den Schrank und lasen Freinet. Verwundert entdeckten sie die Aktualität von Peter Petersens elf Regeln für Freie Arbeit, und dass Maria Montessori keine Kindergarten-Tante gewesen war.

Wie seit grauer Vorzeit üblich, sollten sie alle 45 Minuten eine neue Fach-Schublade aufziehen. Sie aber ließen die Schulglocken nur noch für die Hofpausen läuten.

Die Entscheidung, wann (ob überhaupt) die Körnerfresser unter den Vögeln zu thematisieren seien, überließen sie nicht dem wechselnden Gutdünken des „Dienstherrn“ in der fernen Landeshauptstadt, sondern entschieden selbst nach den Gegebenheiten ihrer Lerngruppe.

Die amtliche Stundentafel setzte fest: „Die vier „Stunden für den Lernbereich ,Sprache' schließen den Leselehrgang in den Klassen 1 und 2 ein”. Stillschweigend verweigerten sie die angeordnete Kinderschädigung und gaben ihren Kindern die fürs Lesenlernen nötige Zeit.

Vier „narrative“ Klassenaufsätze verlangte die Vorschrift für Klasse 4, einen „diskursiven“, zwei Stück „informative“ und einen „appellativen“. Sie aber ignorierten die Narretei und ließen ihre Kinder schreiben nach dem Lustprinzip.

In den netto 848 Gramm ihrer Richtlinien und Lehrpläne lasen sie, was im Kunstunterricht Sache zu sein hatte: „Verhaltensweisen ... sind in der Regel vielseitig und mehrschichtig angelegt, indem sie eine syntaktische Dimension (= Ding-, Mittel-Bezug und Ordnungsfunktion), eine semantisch-sigmatische Dimension (= inhaltlicher, gehaltlicher Objekt-Bezug) und ...“ Was taten sie? Sie ließen ihre Kinder malen, zeichnen und basteln nach Herzenslust.

Zeugnisse mussten nüchtern-unpersönlich sein wie Gaswerksrechnungen. Sie drehten die Formulare um: 624 Quadratzentimeter leeren, weißen Papiers, und beschrieben die Rückseite mit Briefen an ihre Kinder. Das merkte ein strebsamer Schulrat und läutete die Glocken: Feurio! Aufregung in der Landeshauptstadt: Dürfen die das? Ministeriale Verantwortungsinhaber mit zehntausend Mark im Monat diskutierten diese Existenzfrage abendländischer Kultur. Der Schulrat kürzte den Prozess ab und verbot die Schändung amtlicher Rückseiten. Da nahmen die Lehrerinnen, da sie Laminieren noch nicht kannten, ihre Tiefkühl-Schweißgeräte, schweißten die fertigen Zeugnisse in Transparenthüllen und schrieben ihre Briefe mit Permanentstift hinten drauf.


Weiße Schimmel in der Grundschule

Sie waren viele, und ihre Zahl wuchs schnell. Was sie taten, blieb nicht verborgen. Endlich fanden sie Bundesgenossen außerhalb ihrer Klassen und Schulen. Die mahnten: Haltet ein!

„Schülergerecht” sollte nun der Unterricht sein. Das ging einigen Fachleuten nun doch zu weit. Warum gleich den Schülern gerecht werden? Sich an ihnen zu orientieren, ist doch auch schon was. Also hieß ein weiteres Schlagwort „schülerorientiert”. (Kinder gab's noch immer nicht.) Dass weiße Schimmel dieser Art sogar in der Grundschule galoppierten, zeigt, wie weit es mit uns gekommen war.

Das alles aber war nichts gegen das Schlagwort von der humanen Schule. Warum stellte Kurt Singer seine „Maßstäbe für eine humane Schule” (Fischer-Tabu 1080) vor? Und was dachte sich Hartmut von Hentig bei seinen Vorträgen (Hanser 211)? Kann denn eine Schule für Menschenkinder anders als human sein? Wir unterrichten doch keine Karnickel!

„Mehr Menschlichkeit in die Schule!” hieß eine Broschüre der Aktion Humane Schule Bayern. Da war zu lesen, was sie von unseren Einrichtungen erhofften: mitmenschliche Beziehungen - und nicht Distanz, Namenlosigkeit, unpersönliches Lernen und Erziehung zur Rivalität; angstfreies Lernen - und nicht Notendruck, Entmutigung und demütigendes Sitzenbleiben.

Jetzt kam die Zeit, da von der inneren Reform der Grundschule sogar Kollegen zu Pferde sich bedroht fühlten, sodass sie als „Schmuseecken ­ -Pädagogik“ verspotteten, was sie selbst weder durften noch konnten noch wollten.


Und vom Mut

Viele Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reform mit Nervenverschleiß und Tränen, einige sogar mit dienstrechtlichen Verfahren bezahlt. Aber auf Dauer war der Staat gegen ihre Macht machtlos und konnte sich den Argumenten der Reformer nicht verschließen: Er erlaubte das bisher Verbotene, gebot es sogar und wurde in vielen Ländern ein eifriger Förderer besonders von Freiarbeit und Wochenplanunterricht. Daraus erwuchs bei aller dankbaren Anerkennung eine neue Gefahr, aber das ist ein anderes Kapitel. 

Wie diese stille Revolution ohne die rot-weißen Hefte der „Grundschule“ verlaufen wäre, ist noch nicht untersucht worden. Sturmglocken wurden in ihnen wahrhaftig nicht geläutet. Aber sie öffneten sich den Reformerinnen und Reformern. Und „Grundschule“ hieß in jenen Jahren, nur wenig übertrieben: Erwin Schwartz. Ehre seinem Andenken.

Wer das als Bericht über Ungehorsam von Lehrerinnen und Lehrern las, hat falsch gelesen. Es ist ein Bericht vom Respekt für die Interessen und Bedürfnisse der Kinder. Von der Achtung ihrer Rechte. Vom Gehorsam gegen die eigenen Ideale.

Und vom Mut.

In Heft 9/2007 der „Grundschule“. Den unterstrichenen Satz hat eine Redakteurin eigenmächtig gestrichen – warum auch immer.