Niemand hört ihn, wenn er schreit (Pädagogische Moden)
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- Kategorie: Zu meiner Zeit (Kolumnen)
- Erstellt: Sonntag, 12. August 2007 09:31
Wenn der Regen niederbraust,
wenn der Sturm das Feld durchsaust,
bleiben Mädchen oder Buben
hübsch daheim in ihren Stuben.
Robert aber dachte: Nein!
Das muss draußen herrlich sein!
Und im Felde patschet er
mit dem Regenschirm umher.
Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
dass der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfasst der Wind,
und der Robert fliegt geschwind
durch die Luft so hoch, so weit.
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
und der Hut fliegt auch davon.
Schirm und Robert fliegen dort
durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
ja, das weiß kein Mensch zu sagen.
(Aus: Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter, 1847
Als ich noch über Pestalozzis Acker stapfte, habe ich mehrmals erlebt, wie „der Regen niederbraust“ und „der Sturm das Feld durchsaust“.
Einmal, als die DDR-Oberen gerade den Fallwind „Mathematikbeschluss” auf die ahnungslose Lehrerschaft stülpten, ließ im Westen die Kultusministerkonferenz die „Mengenlehre” gegen die Brüder & Schwestern im Westen sausen. Was dann passierte, können sich junge Kolleginnen und Kollegen heute gar nicht vorstellen. Ohne eine für Mathe-Laien erkennbare Vorwarnung sprang die Mengenlehre auf, brauste heran, „faucht und keucht“. Die Verlage zeigten, wozu Kapitalismus fähig ist: Innerhalb von Monaten waren neue Bücher da. Lehrerfortbildung schien nur noch aus Mengenlehre zu bestehen. „Sie haben noch nicht teilgenommen?” Ab in die Volkshochschule! Das störte gar sehr unsere Arbeit auf Pestalozzis Acker, unsere Herzen aber fanden Bestätigung beim Prediger Salomonis.
Die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie hatte 1959 mit einem Aufsatz von Basil Bernstein die kompensatorische Spracherziehung vorgestellt, ein laues Lüftchen, mehr nicht. Wer von uns las schon das Kölner Blättchen? Wir waren schließlich mit Studium und Deutung unzähliger Erlasse und Verfügungen ausgelastet. So nahm ein Jahrzehnt lang kaum einer das Lüftchen wahr. Plötzlich, hui!, wuchs es zum Sturm. Als die Lehrer merkten, dass es draußen keineswegs „herrlich“ war und es besser gewesen wäre, „hübsch daheim in ihren Stuben“ zu bleiben, war’s schon zu spät.
Verschreckt und fasziniert zugleich sahen wir sie Anfang der siebziger Jahre heranbrausen, die soziolinguistische Analyse des Zusammenhangs von sozialer Klasse, Sprache und Bildungserfolg, und wer auf sein Examen Wert legte, konnte mehr, als restringierten und elaborierten Code voneinander zu unterscheiden. Auch wenn Bernstein höchstselbst (Gibt’s den eigentlich noch?) heftig gegen den „Unfug mit der ,kompensatorischen' Erziehung” wetterte (b:e, 9/19791): Der Wind tobte über uns hinweg. Mit scheuem Enthusiasmus hörten wir das Wilde Heer über uns brausen, Basil voran, Denis Lawton hinterher, Reichweins Regine, Oevermann (wo sind sie geblieben?), ließen uns erfassen, schwangen uns auf, brausten mit: „An die Wolken stößt er schon, und der Hut fliegt auch davon.“
Hoch in den Lüften erst erkannten wir, dass wir die Mahnung des Predigers Salomonis vergessen hatten.
Aus heiterem Himmel brach ein ander Mal die „kommunikative Wende” (Eduard Haueis) über uns herein. Keine Chance hat man da als braver Lehrer ungeschützt in Pestalozzis Furchen. Jeder versuchte, hinter einem Ausreden-Schirm in Deckung zu gehen: „Deutsch ist nicht mein Fach.“ „Ich lasse schon immer nur kommunikative Aufsätze schreiben!“ „Der Haueis spinnt doch!“ „Ich hab ein Attest vom Amtsarzt!“ Was für ein trauriger Anblick:
„Im Felde patschet er
mit dem Regenschirm umher.“
Kein Aufsatz, spottet später Valentin Merkelbach, „sollte mehr geschrieben werden, für den es nicht einen echten oder wenigstens einen ordentlich simulierten Adressaten gab.” Wohl dem Deutschlehrer, der Deckung in einer Furche fand und seinen Prediger beherzigte!
Und wohl der braven DDR-Lehrerin, die sich rechtzeitig zu Boden warf oder wenigstens eine windschlüpfrige Form annehmen konnte, als die Stürme der „Lipezker Methode" und der „Stoffeinheitenplanung" herantobten!
Was ist aus ihnen allen geworden?
„Wo der Wind sie hingetragen,
ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“
Und erst die Legasthenie! Anno 73, 74, 75 war’s, da haben wir mit BT und RST Hunderttausende von Kindern getestet. (Wollt ihr wissen, wie der Beltz-Verlag zu seinen vergoldeten Türklinken kam: Jetzt ahnt ihr es!) Mit dem BT (Bildertest) ermittelten wir die intellektuelle Ausstattung, mit dem RST das Rechtschreibvermögen. Passten die Ergebnisse bei einem Kind nicht zusammen, war sein Rechtschreiben also schlechter, als es nach seiner Intigentz sein durfte, war es Legastheniker und musste an Kursen teilnehmen. Da kroch eine leibhaftige preußische Schulrätin mit ihrer Sekretärin nächtens auf dem Fußboden ihres Büros umher und ordnete die verschiedenen Stapel von Testheften, für die auf den Tischen kein Platz war. Sage niemand, so sei das nicht gewesen: Ich bin mitgekrochen, denn ich war „Legas-thenie“-Beauftragter der Stadt Wuppertal und wähnte, des Predigers Mahnung beherzigen zu können, indem ich dieser missratenen Wissenschaft folgte.
Aber das war alles noch gar nichts! Der Sturm der Curriculumtheorie tobte gewaltiger, als ein braver Lehrer sich hätte träumen lassen. Die Windsbraut des „Berliner Modells” heulte heran, im Sattel die Trinität Heimannottoschulz. Zu Abertausenden ließen sich die pädagogischen Roberts und Robertas in die Wolken tragen.
Überall im Land mussten die Windmessanlagen neu justiert werden. Auf allen Feldern ließen Modellbauer ihre Winde fahren, dass uns Hören und Sehen verging, eine lernzielorientierte Didaktik machte Kinder zu „SS”, beugte reihenweise unangreifbar scheinende Koryphäen-Bäume in die neue Windrichtung, und als Wolfgang Schulz erschrak und 1981 die Windstärke mindern wollte („Unterrichtsplanung”, Urban & Schwarzenberg, auch längst passé), hatte sich der Sturm schon ausgetobt. Die Windmacher verließen im Laufschritt Äcker und Felder und taten, als seien sie nicht dabeigewesen. Wer da oben, in den Wolken, alleingelassen, um Hilfe rief, erfuhr: „ Niemand hört ihn, wenn er schreit.“
Immerhin hinterließ dieser Wind mächtige Ruinen, an denen sich die Arbeiter auf den pädagogischen Feldern noch Jahrzehnte lang zu orientieren lernten (und ihre Orientierungsversuche unverzüglich einstellten, sobald sie es nicht mehr mussten, und fortan „immer der Nase nach“ über Pestalozzis Acker stapften).
Nicht, dass dergleichen Konzepte folgenlos wären. Meistens hat sich hernach etwas zum Guten verändert, bloß viel weniger, als von den Autoren gewollt. Und stets nach überstandener Naturgewalt schütteln die einen ernüchtert den Kopf, um sich gedanklich zu sammeln, während die andern sich aus ihrer Ackerfurche erheben, den Staub von den Kleidern schlagen, weitermachen wie zuvor und dem Prediger Salomonis folgen.
Die Bücher der Windmacher aber, „theoretisch überholt”, wandern erst in die zweite Reihe der Lehrerbücherei, später ins Antiquariat. In Schulleiter- und Schulratsrevisionen werden nun andere „Kenntnisse vom gegenwärtigen Stand der Wissenschaft” abgefragt.
Nur mit dem „offenen Unterricht“ schien das anders zu werden. Auch in diesem Fall hatte wohl niemand geahnt, dass aus dem lauen Lüftchen mit Namen „offene Curricula” der spätere Wirbel werden würde. Zuerst, 1972, pustete Hans Brügelmann unter diesem Namen in die Zeitschrift für Pädagogik; 1976 legten Elard Klewitz und Horst Mitzkat den „offenen Unterricht” in der GRUNDSCHULE nach.
Eigentlich ging es nur um Inhalte der englischen Primarschulreform. Aber dann war plötzlich der Teufel los, füllten die Bücher zum Thema Regale, wurden Pflichtstundenermäßigungen ausgelobt für Lehrer, die irgendeine „Öffnung” erprobten, steckten Hochschullehrer die Claims für ihre privaten Windräder, Windmaschinen und Windkanal-Anlagen ab, und jeder befasste sich mit seinem eigenen Wind, der Begriff ließ es ja zu.
Wir waren damals sicher, in diesem Falle handele es sich nicht um Windmacherei, und des Predigers Mahnung sei unangebracht und mehr als sonst werde bleiben, nämlich die „pädagogische Haltung” (Hans Brügelmann) ungezählter Lehrerinnen und Lehrer fast ausschließlich in Grund- und Hauptschule. Eine solche Haltung nämlich unterliegt nur wenig dem meteorologischen Wechselspiel.
Heute, Jahrzehnte später, zerfransen Woche für Woche Zeitungs-Berichte über Nach-PISA-Stürme meine einstigen Hoffnungen. Anscheinend begnügen sich die Windmacher diesmal nicht mehr mit dem Verschieben von ein paar Isobaren, sondern sie versuchen gleich, die Sonne abzustellen und die Erdrotation anzuhalten, sodass, scheint es, ganze Windsysteme in Turbulenzen kollabieren. Es wird kalt, und die Druckverhältnisse im Lande werden verwirbelt.
Leider: Anderes als Kälte und Druck können sie nicht. Da denkt ein aufgehörter Lehrer an seine Kollegen auf dem Acker, wie schwer es für die sein muss, dem Prediger Salomonis zu folgen: „Wer auf den Wind achtet, der sät nicht.“ Kapitel 11, Vers 4.
1 betrifft: erziehung , Kultzeitschrift der siebziger Jahre, Herausgeber Horst Speichert, auch schon tot, Ehre seinem Andenken!