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Nihil nisi bona (Über meine Lehrer)
„DE MORTUIS NIHIL NISI BENE”
(Römisch nach einem griechischen Weisen)
Außer mir sind alle Beteiligten tot, und über Tote, warnt der Philosoph, solle man „bene“ reden, also auf gute Art (und nicht mit „bonum“ und „bona“ Gutes zusammenlügen). Bei denen, derer ich hier gedenke, braucht es den bene-Schleier nicht. Sie haben mir wirklich Gutes getan: bona. Alle drei beeinflussten mich dauerhaft innerhalb weniger Wochen am Ende meiner Studienzeit.
Erstens. „Väterchen“ Harder, Mennonit von der Wolga, Professor an der (damals noch evangelischen) Pädagogischen Akademie Wuppertal. Gegen Ende unserer Studienzeit war einem befreundeten Kommilitonen aus der sauerländischen Diaspora eine Schwängerung unterlaufen. Er war verzweifelt. Erstens überhaupt (1957 – ihr ahnt nicht, was das bedeutete!), zweitens wegen der Minderjährigkeit der werdenden Mutter, drittens wegen der strammen Katholizität der demnächstigen Zwangs-Schwiegereltern, viertens, weil Wohnungen damals vom Wohnungsamt zugewiesen wurden (8 m2 je Person, Embryos zählten nicht). Ich nahm mir ein Herz und berichtete Harder, von dem ich wusste, dass er „Beziehungen“ in Düsseldorf hatte. Er reckte den Spitzbart, stocherte in seiner Pfeife und sagte nichts.
Als wir erfuhren, welche Dienstorte uns in der damals üblichen Lotterie zugefallen waren, wurde meinem Freund die Stelle eines Alleinstehenden Lehrers in einem sauerländischen Dorf zugewiesen: Nagelneues Schulgebäude, Dienstwohnung mit Kinderzimmer im Hause, Öl-Zentralheizung, Isolierglas-Fenster, Riesengarten und die Leitung im dörflichen Gesangverein. Was war dagegen die Aussicht, als Anfänger sogleich acht Jahrgänge in einem Raum zu haben!
Zweitens. Professor Oskar Hammelsbeck, unser vom Geist der pädagogischen Philosophie erfüllter Übervater, honorig, fremd in der Praxis, kenntnisreich in der Theorie und sehr evangelisch. Mein Volksschullehrer-Studium war zu Ende. Mein Amtsantritt als hauptberuflicher Studentenfunktionär stand bevor. Der kollidierte mit der Zeit der Examina. Knackige Probleme waren zu erwarten.
Da räumte mir Hammelsbeck, der das Dilemma ohne mein Zutun erkannt hatte, eine vorgezogene Einzelprüfung an einem einzigen Vormittag ein. „Eigentlich“ durfte er das nicht. Er tat’s einfach.
Drittens. Wilhelm Brockhaus, Professor an eben jener Pflanzstätte, jugendbewegter Biologe und vegetarischer Überzeugungstäter. Der meldete sich als Beisitzer für meine Prüfung in Psychologie. Der Dozent, Herr Dahms, hatte öffentlich mit Missfallen registriert, dass ich seine Nachmittags-Seminare oft geschwänzt hatte. (Er wusste noch nicht mal, dass ich ein ganzes Semester lang Spätschicht in der Wicküler-Brauerei gearbeitet hatte, weil ich trotz Arbeit in den Ferien von 120 Mark Fürsorge – so hieß das Sozialgeld damals – nicht leben konnte.) Brockhaus saß am Nebentisch, vor sich ein aggressiv tickendes Wecker-Ungetüm.
Nach kurzem Bohren hatte Dahms eine meiner vielen Schwachstellen gefunden und gerade lustvoll begonnen, das Loch zum Krater zu erweitern, um mich sodann auszuweiden, als Brockhaus verkündete: „Die Zeit ist ’rum.“ Dahms, fassungslos, protestierte: „Das ist doch gar nicht möglich!“ Aber Brockhaus hielt seinen nun nicht mehr tickenden Wecker hoch: „Hier, bitte!“ Mit dieser unglaublichen Chuzpe rettete er mir eine Vier minus in Psychologie.
Jahrzehnte später sah ich ihn bei einer Vortragsveranstaltung vor mir sitzen, schon vom Krebs gezeichnet. Ich ging zu ihm und dankte ihm. Er erinnerte sich sofort. Ich versicherte, in meinem Lehrerleben versucht zu haben, mich seiner würdig zu erweisen.
Heute weiß ich, was ich erst viel später verstanden habe: Aktionen wie die meiner Professoren haben mich für mein ganzes Leben beeinflusst. Sie haben dazu beigetragen, dass ich als Lehrer, Schulleiter und Schulaufsichtsbeamter den Mut zu manchem dreisten Akt hatte, wenn ich sicher war, er diene einem Menschen.
Ich hatte Grund, diesen Bericht nicht mit „bene“ zu relativieren, sondern zu sagen, was ich über drei Pädagogen zu sagen habe: „nihil nisi bona“.
Klagte nun jemand, ich hätte soeben zugegeben, gelegentlich meine Beamtenpflichten verletzt zu haben, so würde ich antworten: Aber dieses Berufsverständnis hab ich doch während meiner Ausbildung gelernt!